Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweites Buch. Dritter Abschnitt.
wurde 1). Daher wurde die ideale Inhaltlichkeit des geschicht-
lichen Lebens nicht wie sie in diesem wirklich da ist, als Recht,
Sittlichkeit, Kunst etc. analysirt und dargestellt, sondern sie wurde
in einförmiger und erhabener Unbestimmtheit in Gott aufgesucht,
und alle nähere Erklärung wurde dem System von Bedingungen
anheimgegeben, unter welchen dieser ideale Gehalt auf dem Schau-
platz der Erde sich verwirklicht. So hat diese mittelalterliche Me-
taphysik der Gesellschaft das Problem der Geisteswissenschaften in
weltumspannendem Geist gestellt, aber anstatt seiner methodischen
Auflösung nur ein grandioses theologisches Schema der Gliederung
geschichtlichen Lebens entworfen.

Daher besitzt das Mittelalter kein anderes Studium der
allgemeinen Eigenschaften des Rechts, der Sittlich-
keit
etc. als dies metaphysische. Und wie die Grundlegung
der Metaphysik von dem Widerspruch zwischen dem Willen
Gottes und dem nothwendigen Zusammenhang des Kosmos in
seinem Verstande, zwischen der Oekonomie des Heils und den
ewigen Wahrheiten innerlich zerrissen wird, so setzt sich derselbe in
die Metaphysik der Gesellschaft fort. Die so entstehende Antinomie
tritt zu der zwischen der menschlichen Freiheit und der göttlichen
Providenz. Willensgebot und Willensakt in Gott, durch sie gesetzte
Institution und Thatsächlichkeit sind in bald verschwiegenem bald
laut ausbrechendem Widerstreit mit der Konstruktion aus der Noth-
wendigkeit des Gedankens. Das Nachfolgende wird zeigen, daß
Wille und Plan Gottes der mächtigere Theil dieser theologischen
Metaphysik waren; wie sie denn auch das letzte Wort behielten.


1) Am klarsten entwickelt in Thomas von Aquino summa theol.
II, 1 quaest
. 90 ff. (wo seine Rechtsphilosophie beginnt): 1) lex = quaedam
rationis ordinatio ad bonum commune, ab eo qui curam communitatis
habet, promulgata (quaest. 90 art. 4); 2) lex aeterna
= (da Gott als
Monarch die Welt regiert) ratio gubernationis rerum in Deo sicut in
principe universitatis existens (quaest. 91 art. 1)
; diese lex aeterna ist
bindende Norm oberster Art und Ursprung jeder anderen binden-
den Norm; 3) lex naturalis = participatio legis aeternae in rationali
creatura
; durch eine Participation des Menschen an dem ewigen Gesetz ent-
steht aus der lex aeterna in Gott die lex naturalis, welche die überall
gleiche Norm der menschlichen Handlungen bildet (quaest. 91 art. 2).

Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
wurde 1). Daher wurde die ideale Inhaltlichkeit des geſchicht-
lichen Lebens nicht wie ſie in dieſem wirklich da iſt, als Recht,
Sittlichkeit, Kunſt etc. analyſirt und dargeſtellt, ſondern ſie wurde
in einförmiger und erhabener Unbeſtimmtheit in Gott aufgeſucht,
und alle nähere Erklärung wurde dem Syſtem von Bedingungen
anheimgegeben, unter welchen dieſer ideale Gehalt auf dem Schau-
platz der Erde ſich verwirklicht. So hat dieſe mittelalterliche Me-
taphyſik der Geſellſchaft das Problem der Geiſteswiſſenſchaften in
weltumſpannendem Geiſt geſtellt, aber anſtatt ſeiner methodiſchen
Auflöſung nur ein grandioſes theologiſches Schema der Gliederung
geſchichtlichen Lebens entworfen.

Daher beſitzt das Mittelalter kein anderes Studium der
allgemeinen Eigenſchaften des Rechts, der Sittlich-
keit
etc. als dies metaphyſiſche. Und wie die Grundlegung
der Metaphyſik von dem Widerſpruch zwiſchen dem Willen
Gottes und dem nothwendigen Zuſammenhang des Kosmos in
ſeinem Verſtande, zwiſchen der Oekonomie des Heils und den
ewigen Wahrheiten innerlich zerriſſen wird, ſo ſetzt ſich derſelbe in
die Metaphyſik der Geſellſchaft fort. Die ſo entſtehende Antinomie
tritt zu der zwiſchen der menſchlichen Freiheit und der göttlichen
Providenz. Willensgebot und Willensakt in Gott, durch ſie geſetzte
Inſtitution und Thatſächlichkeit ſind in bald verſchwiegenem bald
laut ausbrechendem Widerſtreit mit der Konſtruktion aus der Noth-
wendigkeit des Gedankens. Das Nachfolgende wird zeigen, daß
Wille und Plan Gottes der mächtigere Theil dieſer theologiſchen
Metaphyſik waren; wie ſie denn auch das letzte Wort behielten.


1) Am klarſten entwickelt in Thomas von Aquino summa theol.
II, 1 quaest
. 90 ff. (wo ſeine Rechtsphiloſophie beginnt): 1) lex = quaedam
rationis ordinatio ad bonum commune, ab eo qui curam communitatis
habet, promulgata (quaest. 90 art. 4); 2) lex aeterna
= (da Gott als
Monarch die Welt regiert) ratio gubernationis rerum in Deo sicut in
principe universitatis existens (quaest. 91 art. 1)
; dieſe lex aeterna iſt
bindende Norm oberſter Art und Urſprung jeder anderen binden-
den Norm; 3) lex naturalis = participatio legis aeternae in rationali
creatura
; durch eine Participation des Menſchen an dem ewigen Geſetz ent-
ſteht aus der lex aeterna in Gott die lex naturalis, welche die überall
gleiche Norm der menſchlichen Handlungen bildet (quaest. 91 art. 2).
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0447" n="424"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Dritter Ab&#x017F;chnitt.</fw><lb/>
wurde <note place="foot" n="1)">Am klar&#x017F;ten entwickelt in Thomas von Aquino <hi rendition="#aq">summa theol.<lb/>
II, 1 quaest</hi>. 90 ff. (wo &#x017F;eine Rechtsphilo&#x017F;ophie beginnt): <hi rendition="#aq">1) lex = quaedam<lb/>
rationis ordinatio ad bonum commune, ab eo qui curam communitatis<lb/>
habet, promulgata (quaest. 90 art. 4); 2) lex aeterna</hi> = (da Gott als<lb/>
Monarch die Welt regiert) <hi rendition="#aq">ratio gubernationis rerum in Deo sicut in<lb/>
principe universitatis existens (quaest. 91 art. 1)</hi>; die&#x017F;e <hi rendition="#aq">lex aeterna</hi> i&#x017F;t<lb/><hi rendition="#g">bindende Norm</hi> ober&#x017F;ter Art und <hi rendition="#g">Ur&#x017F;prung</hi> jeder <hi rendition="#g">anderen</hi> binden-<lb/>
den <hi rendition="#g">Norm</hi>; <hi rendition="#aq">3) lex naturalis = participatio legis aeternae in rationali<lb/>
creatura</hi>; durch eine Participation des Men&#x017F;chen an dem ewigen Ge&#x017F;etz ent-<lb/>
&#x017F;teht aus der <hi rendition="#aq">lex aeterna</hi> in Gott die <hi rendition="#aq">lex naturalis</hi>, welche die überall<lb/>
gleiche Norm der men&#x017F;chlichen Handlungen bildet (<hi rendition="#aq">quaest. 91 art. 2</hi>).</note>. Daher wurde die ideale Inhaltlichkeit des ge&#x017F;chicht-<lb/>
lichen Lebens nicht wie &#x017F;ie in die&#x017F;em wirklich da i&#x017F;t, als Recht,<lb/>
Sittlichkeit, Kun&#x017F;t etc. analy&#x017F;irt und darge&#x017F;tellt, &#x017F;ondern &#x017F;ie wurde<lb/>
in einförmiger und erhabener Unbe&#x017F;timmtheit in Gott aufge&#x017F;ucht,<lb/>
und alle nähere Erklärung wurde dem Sy&#x017F;tem von Bedingungen<lb/>
anheimgegeben, unter welchen die&#x017F;er ideale Gehalt auf dem Schau-<lb/>
platz der Erde &#x017F;ich verwirklicht. So hat die&#x017F;e mittelalterliche Me-<lb/>
taphy&#x017F;ik der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft das Problem der Gei&#x017F;teswi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften in<lb/>
weltum&#x017F;pannendem Gei&#x017F;t ge&#x017F;tellt, aber an&#x017F;tatt &#x017F;einer methodi&#x017F;chen<lb/>
Auflö&#x017F;ung nur ein grandio&#x017F;es theologi&#x017F;ches Schema der Gliederung<lb/>
ge&#x017F;chichtlichen Lebens entworfen.</p><lb/>
            <p>Daher be&#x017F;itzt das Mittelalter kein anderes <hi rendition="#g">Studium</hi> der<lb/><hi rendition="#g">allgemeinen Eigen&#x017F;chaften des Rechts,</hi> der <hi rendition="#g">Sittlich-<lb/>
keit</hi> etc. als dies <hi rendition="#g">metaphy&#x017F;i&#x017F;che</hi>. Und wie die Grundlegung<lb/>
der Metaphy&#x017F;ik von dem <hi rendition="#g">Wider&#x017F;pruch</hi> zwi&#x017F;chen dem Willen<lb/>
Gottes und dem nothwendigen Zu&#x017F;ammenhang des Kosmos in<lb/>
&#x017F;einem Ver&#x017F;tande, zwi&#x017F;chen der Oekonomie des Heils und den<lb/>
ewigen Wahrheiten innerlich zerri&#x017F;&#x017F;en wird, &#x017F;o &#x017F;etzt &#x017F;ich der&#x017F;elbe in<lb/>
die Metaphy&#x017F;ik der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft fort. Die &#x017F;o ent&#x017F;tehende Antinomie<lb/>
tritt zu der zwi&#x017F;chen der men&#x017F;chlichen Freiheit und der göttlichen<lb/>
Providenz. Willensgebot und Willensakt in Gott, durch &#x017F;ie ge&#x017F;etzte<lb/>
In&#x017F;titution und That&#x017F;ächlichkeit &#x017F;ind in bald ver&#x017F;chwiegenem bald<lb/>
laut ausbrechendem Wider&#x017F;treit mit der Kon&#x017F;truktion aus der Noth-<lb/>
wendigkeit des Gedankens. Das Nachfolgende wird zeigen, daß<lb/>
Wille und Plan Gottes der mächtigere Theil die&#x017F;er theologi&#x017F;chen<lb/>
Metaphy&#x017F;ik waren; wie &#x017F;ie denn auch das letzte Wort behielten.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[424/0447] Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. wurde 1). Daher wurde die ideale Inhaltlichkeit des geſchicht- lichen Lebens nicht wie ſie in dieſem wirklich da iſt, als Recht, Sittlichkeit, Kunſt etc. analyſirt und dargeſtellt, ſondern ſie wurde in einförmiger und erhabener Unbeſtimmtheit in Gott aufgeſucht, und alle nähere Erklärung wurde dem Syſtem von Bedingungen anheimgegeben, unter welchen dieſer ideale Gehalt auf dem Schau- platz der Erde ſich verwirklicht. So hat dieſe mittelalterliche Me- taphyſik der Geſellſchaft das Problem der Geiſteswiſſenſchaften in weltumſpannendem Geiſt geſtellt, aber anſtatt ſeiner methodiſchen Auflöſung nur ein grandioſes theologiſches Schema der Gliederung geſchichtlichen Lebens entworfen. Daher beſitzt das Mittelalter kein anderes Studium der allgemeinen Eigenſchaften des Rechts, der Sittlich- keit etc. als dies metaphyſiſche. Und wie die Grundlegung der Metaphyſik von dem Widerſpruch zwiſchen dem Willen Gottes und dem nothwendigen Zuſammenhang des Kosmos in ſeinem Verſtande, zwiſchen der Oekonomie des Heils und den ewigen Wahrheiten innerlich zerriſſen wird, ſo ſetzt ſich derſelbe in die Metaphyſik der Geſellſchaft fort. Die ſo entſtehende Antinomie tritt zu der zwiſchen der menſchlichen Freiheit und der göttlichen Providenz. Willensgebot und Willensakt in Gott, durch ſie geſetzte Inſtitution und Thatſächlichkeit ſind in bald verſchwiegenem bald laut ausbrechendem Widerſtreit mit der Konſtruktion aus der Noth- wendigkeit des Gedankens. Das Nachfolgende wird zeigen, daß Wille und Plan Gottes der mächtigere Theil dieſer theologiſchen Metaphyſik waren; wie ſie denn auch das letzte Wort behielten. 1) Am klarſten entwickelt in Thomas von Aquino summa theol. II, 1 quaest. 90 ff. (wo ſeine Rechtsphiloſophie beginnt): 1) lex = quaedam rationis ordinatio ad bonum commune, ab eo qui curam communitatis habet, promulgata (quaest. 90 art. 4); 2) lex aeterna = (da Gott als Monarch die Welt regiert) ratio gubernationis rerum in Deo sicut in principe universitatis existens (quaest. 91 art. 1); dieſe lex aeterna iſt bindende Norm oberſter Art und Urſprung jeder anderen binden- den Norm; 3) lex naturalis = participatio legis aeternae in rationali creatura; durch eine Participation des Menſchen an dem ewigen Geſetz ent- ſteht aus der lex aeterna in Gott die lex naturalis, welche die überall gleiche Norm der menſchlichen Handlungen bildet (quaest. 91 art. 2).

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/447
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 424. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/447>, abgerufen am 17.05.2024.