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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Dritter Abschnitt.

Und zwar fand sich das christliche Nachdenken zunächst zu
einer solchen teleologischen Deutung der Geschichte durch die Ein-
wendungen der Gegner genöthigt. Daher entstand diese Metaphysik
der Geschichte schon in der Epoche der Väter und des Ringens
zwischen Christenthum, antikem Götterglauben und Judenthum
durch die Gewalt der Dinge und wurde vom Mittelalter nur fort-
gebildet. Warum, so fragten die Gegner des Christenthums,
mußte das von Gott durch Moses gegebene Gesetz verbessert werden,
da man doch nur verbessert, was schlecht gemacht worden ist 1)?
Warum soll der Römer die religiösen Ueberzeugungen, auf welchen
die Gesellschaft beruht, und die gemeinsame Bildung, welche
die zur Humanität Erzogenen verbindet, verlassen 2)? Warum,
so fragten Celsus und Porphyrius in ihren Streitschriften gegen
das Christenthum gemeinsam, ist es Gott erst nach so langem
Verlauf der Geschichte eingefallen, die Menschen zu erlösen 3)?
Und seitdem die Barbaren das römische Imperium zu bedrängen
begannen, ja die christlichen Gothen Rom erobert und verwüstet
hatten, entstand die noch tiefer in die Deutung der weltlichen Ge-
schichte hineinführende Frage: ist nicht das Christenthum die Ur-
sache aller neuesten Unglücksfälle des Imperiums, oder wie kann,
im Gegensatz gegen die dahinzielenden Vorwürfe, diese ungeheure
politische Krisis gedeutet werden 4)? Die ersten dieser Fragen riefen

1) Anfrage des Marcellinus an Augustinus, in dessen Briefwechsel,
epist. 136.
2) So vielfach z. B. Celsus bei Origenes contra Cels. V c. 35 ff.
3) Celsus bei Origenes contra Cels. IV c. 8, Porphyrius bei Augustinus
epist. 102 (sex quaestiones contra paganos expositae, quaest. 2: de
tempore christianae religionis)
.
4) Gegen diesen Vorwurf ist Augustins Hauptwerk de civitate Dei
gerichtet, vgl. lib. I u. lib. II, c. 2. Ebenso beziehen sich auf ihn die
sieben Bücher historiarum adversum paganos von Orosius. Vgl. I prol.:
er entspreche der Vorschrift des Augustin, die Vorstellung einer Zerrüttung
der Welt und der menschlichen Gesellschaft in Folge des Christenthums zu
bekämpfen; daher schleppt er alle Unglücksfälle zusammen. praeceperas
ergo, ut ex omnibus, qui haberi ad praesens possunt, historiarum
atque annalium fastis, quaecumque aut bellis gravia aut corrupta morbis
aut fame tristia aut terrarum motibus terribilia aut inundationibus
aquarum insolita aut eruptionibus ignium metuenda aut ictibus ful-
Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.

Und zwar fand ſich das chriſtliche Nachdenken zunächſt zu
einer ſolchen teleologiſchen Deutung der Geſchichte durch die Ein-
wendungen der Gegner genöthigt. Daher entſtand dieſe Metaphyſik
der Geſchichte ſchon in der Epoche der Väter und des Ringens
zwiſchen Chriſtenthum, antikem Götterglauben und Judenthum
durch die Gewalt der Dinge und wurde vom Mittelalter nur fort-
gebildet. Warum, ſo fragten die Gegner des Chriſtenthums,
mußte das von Gott durch Moſes gegebene Geſetz verbeſſert werden,
da man doch nur verbeſſert, was ſchlecht gemacht worden iſt 1)?
Warum ſoll der Römer die religiöſen Ueberzeugungen, auf welchen
die Geſellſchaft beruht, und die gemeinſame Bildung, welche
die zur Humanität Erzogenen verbindet, verlaſſen 2)? Warum,
ſo fragten Celſus und Porphyrius in ihren Streitſchriften gegen
das Chriſtenthum gemeinſam, iſt es Gott erſt nach ſo langem
Verlauf der Geſchichte eingefallen, die Menſchen zu erlöſen 3)?
Und ſeitdem die Barbaren das römiſche Imperium zu bedrängen
begannen, ja die chriſtlichen Gothen Rom erobert und verwüſtet
hatten, entſtand die noch tiefer in die Deutung der weltlichen Ge-
ſchichte hineinführende Frage: iſt nicht das Chriſtenthum die Ur-
ſache aller neueſten Unglücksfälle des Imperiums, oder wie kann,
im Gegenſatz gegen die dahinzielenden Vorwürfe, dieſe ungeheure
politiſche Kriſis gedeutet werden 4)? Die erſten dieſer Fragen riefen

1) Anfrage des Marcellinus an Auguſtinus, in deſſen Briefwechſel,
epist. 136.
2) So vielfach z. B. Celſus bei Origenes contra Cels. V c. 35 ff.
3) Celſus bei Origenes contra Cels. IV c. 8, Porphyrius bei Auguſtinus
epist. 102 (sex quaestiones contra paganos expositae, quaest. 2: de
tempore christianae religionis)
.
4) Gegen dieſen Vorwurf iſt Auguſtins Hauptwerk de civitate Dei
gerichtet, vgl. lib. I u. lib. II, c. 2. Ebenſo beziehen ſich auf ihn die
ſieben Bücher historiarum adversum paganos von Oroſius. Vgl. I prol.:
er entſpreche der Vorſchrift des Auguſtin, die Vorſtellung einer Zerrüttung
der Welt und der menſchlichen Geſellſchaft in Folge des Chriſtenthums zu
bekämpfen; daher ſchleppt er alle Unglücksfälle zuſammen. praeceperas
ergo, ut ex omnibus, qui haberi ad praesens possunt, historiarum
atque annalium fastis, quaecumque aut bellis gravia aut corrupta morbis
aut fame tristia aut terrarum motibus terribilia aut inundationibus
aquarum insolita aut eruptionibus ignium metuenda aut ictibus ful-
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[426/0449] Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. Und zwar fand ſich das chriſtliche Nachdenken zunächſt zu einer ſolchen teleologiſchen Deutung der Geſchichte durch die Ein- wendungen der Gegner genöthigt. Daher entſtand dieſe Metaphyſik der Geſchichte ſchon in der Epoche der Väter und des Ringens zwiſchen Chriſtenthum, antikem Götterglauben und Judenthum durch die Gewalt der Dinge und wurde vom Mittelalter nur fort- gebildet. Warum, ſo fragten die Gegner des Chriſtenthums, mußte das von Gott durch Moſes gegebene Geſetz verbeſſert werden, da man doch nur verbeſſert, was ſchlecht gemacht worden iſt 1)? Warum ſoll der Römer die religiöſen Ueberzeugungen, auf welchen die Geſellſchaft beruht, und die gemeinſame Bildung, welche die zur Humanität Erzogenen verbindet, verlaſſen 2)? Warum, ſo fragten Celſus und Porphyrius in ihren Streitſchriften gegen das Chriſtenthum gemeinſam, iſt es Gott erſt nach ſo langem Verlauf der Geſchichte eingefallen, die Menſchen zu erlöſen 3)? Und ſeitdem die Barbaren das römiſche Imperium zu bedrängen begannen, ja die chriſtlichen Gothen Rom erobert und verwüſtet hatten, entſtand die noch tiefer in die Deutung der weltlichen Ge- ſchichte hineinführende Frage: iſt nicht das Chriſtenthum die Ur- ſache aller neueſten Unglücksfälle des Imperiums, oder wie kann, im Gegenſatz gegen die dahinzielenden Vorwürfe, dieſe ungeheure politiſche Kriſis gedeutet werden 4)? Die erſten dieſer Fragen riefen 1) Anfrage des Marcellinus an Auguſtinus, in deſſen Briefwechſel, epist. 136. 2) So vielfach z. B. Celſus bei Origenes contra Cels. V c. 35 ff. 3) Celſus bei Origenes contra Cels. IV c. 8, Porphyrius bei Auguſtinus epist. 102 (sex quaestiones contra paganos expositae, quaest. 2: de tempore christianae religionis). 4) Gegen dieſen Vorwurf iſt Auguſtins Hauptwerk de civitate Dei gerichtet, vgl. lib. I u. lib. II, c. 2. Ebenſo beziehen ſich auf ihn die ſieben Bücher historiarum adversum paganos von Oroſius. Vgl. I prol.: er entſpreche der Vorſchrift des Auguſtin, die Vorſtellung einer Zerrüttung der Welt und der menſchlichen Geſellſchaft in Folge des Chriſtenthums zu bekämpfen; daher ſchleppt er alle Unglücksfälle zuſammen. praeceperas ergo, ut ex omnibus, qui haberi ad praesens possunt, historiarum atque annalium fastis, quaecumque aut bellis gravia aut corrupta morbis aut fame tristia aut terrarum motibus terribilia aut inundationibus aquarum insolita aut eruptionibus ignium metuenda aut ictibus ful-

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 426. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/449>, abgerufen am 22.11.2024.