teresse, das von der Absicht technischer Anweisung für das Be- rufsleben ganz unabhängig war 1). Diese Erkenntniß wurde jetzt bald in der Zelle des Mönchs durch vertiefte Versenkung in den Gedanken von der Vorsehung Gottes gesucht, bald von den Publizisten der Kurie wie des kaiserlichen Hofes im Dienste der Parteien verwerthet.
Aber war schon die Methode der aristotelischen Staats- wissenschaft darin ungenügend gewesen, daß sie für die Zerglie- derung nicht Kausalbegriffe aus durchgebildeten weiter zurückliegenden Wissenschaften benutzen, sonach die einzelnen Zweckzusammen- hänge, wie Wirthschaftsleben, Recht, Religion etc. nicht durch analytische Erkenntniß sondern nur durch unvollkommene Vor- stellungen von einer in der Physis angelegten Zweckmäßigkeit er- klären konnte 2): das Mittelalter war noch viel weniger geneigt, die Zusammenhänge, wie sie in den einzelnen Kultursystemen sich darstellen und schließlich der äußeren Organisation der Gesellschaft zu Grunde liegen, methodisch zu zergliedern und die so gewonnenen Theilinhalte der gesellschaftlichen Wirklichkeit für die Erklärung zu verwerthen. Zudem enthielt die gesellschaftliche Wirklichkeit, wie sie sich ihm darbot, die Inhaltlichkeit des geschichtlichen Lebens noch auf einer niederen Stufe von Diffe- renzirung. Das Auge des Betrachters sah damals in jedem geistigen Inhalt den Zusammenhang mit dem Gesetze Gottes oder den Widerstreit gegen dasselbe. Religion, wissenschaftliche Wahr- heit, Sittlichkeit und Recht wurden nicht als relativ selbständige Zweckzusammenhänge vom mittelalterlichen Denken aufgefaßt, son- dern für dieses war Ein Idealgehalt in ihnen, und erst seine Verwirklichung unter den Bedingungen der Natur und That des Menschen schien die Verschiedenheit dieser Lebensformen hervorzu- bringen. So sah man in Gott, sofern er das Vernunftideal in sich enthält, den Quell des Naturrechtes, welches als eine bindende Norm, und zwar die höchste, folglich als wirkliches Recht aufgefaßt
1) Vgl. S. 295 f.
2) Vgl. S. 292 ff.
Der Eine Idealgehalt in ihm.
tereſſe, das von der Abſicht techniſcher Anweiſung für das Be- rufsleben ganz unabhängig war 1). Dieſe Erkenntniß wurde jetzt bald in der Zelle des Mönchs durch vertiefte Verſenkung in den Gedanken von der Vorſehung Gottes geſucht, bald von den Publiziſten der Kurie wie des kaiſerlichen Hofes im Dienſte der Parteien verwerthet.
Aber war ſchon die Methode der ariſtoteliſchen Staats- wiſſenſchaft darin ungenügend geweſen, daß ſie für die Zerglie- derung nicht Kauſalbegriffe aus durchgebildeten weiter zurückliegenden Wiſſenſchaften benutzen, ſonach die einzelnen Zweckzuſammen- hänge, wie Wirthſchaftsleben, Recht, Religion etc. nicht durch analytiſche Erkenntniß ſondern nur durch unvollkommene Vor- ſtellungen von einer in der Phyſis angelegten Zweckmäßigkeit er- klären konnte 2): das Mittelalter war noch viel weniger geneigt, die Zuſammenhänge, wie ſie in den einzelnen Kulturſyſtemen ſich darſtellen und ſchließlich der äußeren Organiſation der Geſellſchaft zu Grunde liegen, methodiſch zu zergliedern und die ſo gewonnenen Theilinhalte der geſellſchaftlichen Wirklichkeit für die Erklärung zu verwerthen. Zudem enthielt die geſellſchaftliche Wirklichkeit, wie ſie ſich ihm darbot, die Inhaltlichkeit des geſchichtlichen Lebens noch auf einer niederen Stufe von Diffe- renzirung. Das Auge des Betrachters ſah damals in jedem geiſtigen Inhalt den Zuſammenhang mit dem Geſetze Gottes oder den Widerſtreit gegen daſſelbe. Religion, wiſſenſchaftliche Wahr- heit, Sittlichkeit und Recht wurden nicht als relativ ſelbſtändige Zweckzuſammenhänge vom mittelalterlichen Denken aufgefaßt, ſon- dern für dieſes war Ein Idealgehalt in ihnen, und erſt ſeine Verwirklichung unter den Bedingungen der Natur und That des Menſchen ſchien die Verſchiedenheit dieſer Lebensformen hervorzu- bringen. So ſah man in Gott, ſofern er das Vernunftideal in ſich enthält, den Quell des Naturrechtes, welches als eine bindende Norm, und zwar die höchſte, folglich als wirkliches Recht aufgefaßt
1) Vgl. S. 295 f.
2) Vgl. S. 292 ff.
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Der Eine Idealgehalt in ihm.
tereſſe, das von der Abſicht techniſcher Anweiſung für das Be-
rufsleben ganz unabhängig war 1). Dieſe Erkenntniß wurde jetzt
bald in der Zelle des Mönchs durch vertiefte Verſenkung in den
Gedanken von der Vorſehung Gottes geſucht, bald von den
Publiziſten der Kurie wie des kaiſerlichen Hofes im Dienſte der
Parteien verwerthet.
Aber war ſchon die Methode der ariſtoteliſchen Staats-
wiſſenſchaft darin ungenügend geweſen, daß ſie für die Zerglie-
derung nicht Kauſalbegriffe aus durchgebildeten weiter zurückliegenden
Wiſſenſchaften benutzen, ſonach die einzelnen Zweckzuſammen-
hänge, wie Wirthſchaftsleben, Recht, Religion etc. nicht durch
analytiſche Erkenntniß ſondern nur durch unvollkommene Vor-
ſtellungen von einer in der Phyſis angelegten Zweckmäßigkeit er-
klären konnte 2): das Mittelalter war noch viel weniger geneigt,
die Zuſammenhänge, wie ſie in den einzelnen Kulturſyſtemen ſich
darſtellen und ſchließlich der äußeren Organiſation der Geſellſchaft
zu Grunde liegen, methodiſch zu zergliedern und die ſo gewonnenen
Theilinhalte der geſellſchaftlichen Wirklichkeit für die Erklärung zu
verwerthen. Zudem enthielt die geſellſchaftliche Wirklichkeit, wie
ſie ſich ihm darbot, die Inhaltlichkeit des geſchichtlichen
Lebens noch auf einer niederen Stufe von Diffe-
renzirung. Das Auge des Betrachters ſah damals in jedem
geiſtigen Inhalt den Zuſammenhang mit dem Geſetze Gottes oder
den Widerſtreit gegen daſſelbe. Religion, wiſſenſchaftliche Wahr-
heit, Sittlichkeit und Recht wurden nicht als relativ ſelbſtändige
Zweckzuſammenhänge vom mittelalterlichen Denken aufgefaßt, ſon-
dern für dieſes war Ein Idealgehalt in ihnen, und erſt ſeine
Verwirklichung unter den Bedingungen der Natur und That des
Menſchen ſchien die Verſchiedenheit dieſer Lebensformen hervorzu-
bringen. So ſah man in Gott, ſofern er das Vernunftideal in
ſich enthält, den Quell des Naturrechtes, welches als eine bindende
Norm, und zwar die höchſte, folglich als wirkliches Recht aufgefaßt
1) Vgl. S. 295 f.
2) Vgl. S. 292 ff.
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 423. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/446>, abgerufen am 22.11.2024.
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