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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Dritter Abschnitt.
Dieses Schema des Lebens ist von der Betrachtungsweise der Alten
ganz verschieden. Dieselben hatten an dem Kosmos ihre Auf-
fassung der Gottheit gebildet, und selbst ihre teleologischen Systeme
kannten nur eine Gedankenmäßigkeit des Weltzusammenhangs. Hier
tritt Gott in die Geschichte und lenkt die Herzen zur Verwirklichung
seines Zweckes. Daher wird hier der Begriff der Gedankenmäßig-
keit der Welt durch den der Verwirklichung eines Planes in ihr
ersetzt, für welchen jene ganze Gedankenmäßigkeit nur Mittel, nur
Apparat ist. Ein Ziel der Entwicklung steht fest und so empfängt
der Gedanke des Zweckes einen neuen Sinn.

Indem dieser Plan Gottes mit der Freiheit des Menschen
zusammengedacht werden soll, tritt in den Mittelpunkt der christ-
lichen Metaphysik der Geschichte das Problem, welches durch die
Antinomie der Freiheit und eines objektiven den Menschen
bestimmenden Weltzusammenhangs gebildet wird. Dasselbe
entspricht innerhalb der realen geschichtlichen Welt dem, welches
wir während des Mittelalters in der Vorstellung Gottes aus der
Antinomie zwischen dem denknothwendigen Zusammenhang und
dem freien Willen hervortreten sahen 1). Es hat von dem Gegen-
satz der griechischen und lateinischen Väter und dem pelagianischen
Streite ab mannichfache Formen angenommen. Aber so wenig
einst das Verhältniß des Bestandes der Ideen zu dem Dasein
der Einzeldinge hatte widerspruchslos gedacht werden können, war
nun die innere Beziehung des schaffenden, erhaltenden und leiten-
den göttlichen Willens zu Freiheit, Schuld und Unglück menschlicher
Willen der Aufklärung durch irgend eine begriffliche Zauberformel
fähig. Wie es dort unmöglich war, ein objektives und wider-
spruchsloses System auf dem Begriff der Substanz aufzubauen,
so gelang es hier nicht, eine reale innere Beziehung zwischen den
Bestandtheilen des Systems von Ursachen und Wirkungen, welche
für den Willen Raum gelassen hätte, dem Begriff der Kausalität
abzugewinnen. Die Formel, zu welcher an diesem Punkte das
metaphysische Denken des Mittelalters gelangte, war die folgende.

1) S. 403 ff.

Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
Dieſes Schema des Lebens iſt von der Betrachtungsweiſe der Alten
ganz verſchieden. Dieſelben hatten an dem Kosmos ihre Auf-
faſſung der Gottheit gebildet, und ſelbſt ihre teleologiſchen Syſteme
kannten nur eine Gedankenmäßigkeit des Weltzuſammenhangs. Hier
tritt Gott in die Geſchichte und lenkt die Herzen zur Verwirklichung
ſeines Zweckes. Daher wird hier der Begriff der Gedankenmäßig-
keit der Welt durch den der Verwirklichung eines Planes in ihr
erſetzt, für welchen jene ganze Gedankenmäßigkeit nur Mittel, nur
Apparat iſt. Ein Ziel der Entwicklung ſteht feſt und ſo empfängt
der Gedanke des Zweckes einen neuen Sinn.

Indem dieſer Plan Gottes mit der Freiheit des Menſchen
zuſammengedacht werden ſoll, tritt in den Mittelpunkt der chriſt-
lichen Metaphyſik der Geſchichte das Problem, welches durch die
Antinomie der Freiheit und eines objektiven den Menſchen
beſtimmenden Weltzuſammenhangs gebildet wird. Daſſelbe
entſpricht innerhalb der realen geſchichtlichen Welt dem, welches
wir während des Mittelalters in der Vorſtellung Gottes aus der
Antinomie zwiſchen dem denknothwendigen Zuſammenhang und
dem freien Willen hervortreten ſahen 1). Es hat von dem Gegen-
ſatz der griechiſchen und lateiniſchen Väter und dem pelagianiſchen
Streite ab mannichfache Formen angenommen. Aber ſo wenig
einſt das Verhältniß des Beſtandes der Ideen zu dem Daſein
der Einzeldinge hatte widerſpruchslos gedacht werden können, war
nun die innere Beziehung des ſchaffenden, erhaltenden und leiten-
den göttlichen Willens zu Freiheit, Schuld und Unglück menſchlicher
Willen der Aufklärung durch irgend eine begriffliche Zauberformel
fähig. Wie es dort unmöglich war, ein objektives und wider-
ſpruchsloſes Syſtem auf dem Begriff der Subſtanz aufzubauen,
ſo gelang es hier nicht, eine reale innere Beziehung zwiſchen den
Beſtandtheilen des Syſtems von Urſachen und Wirkungen, welche
für den Willen Raum gelaſſen hätte, dem Begriff der Kauſalität
abzugewinnen. Die Formel, zu welcher an dieſem Punkte das
metaphyſiſche Denken des Mittelalters gelangte, war die folgende.

1) S. 403 ff.
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[420/0443] Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. Dieſes Schema des Lebens iſt von der Betrachtungsweiſe der Alten ganz verſchieden. Dieſelben hatten an dem Kosmos ihre Auf- faſſung der Gottheit gebildet, und ſelbſt ihre teleologiſchen Syſteme kannten nur eine Gedankenmäßigkeit des Weltzuſammenhangs. Hier tritt Gott in die Geſchichte und lenkt die Herzen zur Verwirklichung ſeines Zweckes. Daher wird hier der Begriff der Gedankenmäßig- keit der Welt durch den der Verwirklichung eines Planes in ihr erſetzt, für welchen jene ganze Gedankenmäßigkeit nur Mittel, nur Apparat iſt. Ein Ziel der Entwicklung ſteht feſt und ſo empfängt der Gedanke des Zweckes einen neuen Sinn. Indem dieſer Plan Gottes mit der Freiheit des Menſchen zuſammengedacht werden ſoll, tritt in den Mittelpunkt der chriſt- lichen Metaphyſik der Geſchichte das Problem, welches durch die Antinomie der Freiheit und eines objektiven den Menſchen beſtimmenden Weltzuſammenhangs gebildet wird. Daſſelbe entſpricht innerhalb der realen geſchichtlichen Welt dem, welches wir während des Mittelalters in der Vorſtellung Gottes aus der Antinomie zwiſchen dem denknothwendigen Zuſammenhang und dem freien Willen hervortreten ſahen 1). Es hat von dem Gegen- ſatz der griechiſchen und lateiniſchen Väter und dem pelagianiſchen Streite ab mannichfache Formen angenommen. Aber ſo wenig einſt das Verhältniß des Beſtandes der Ideen zu dem Daſein der Einzeldinge hatte widerſpruchslos gedacht werden können, war nun die innere Beziehung des ſchaffenden, erhaltenden und leiten- den göttlichen Willens zu Freiheit, Schuld und Unglück menſchlicher Willen der Aufklärung durch irgend eine begriffliche Zauberformel fähig. Wie es dort unmöglich war, ein objektives und wider- ſpruchsloſes Syſtem auf dem Begriff der Subſtanz aufzubauen, ſo gelang es hier nicht, eine reale innere Beziehung zwiſchen den Beſtandtheilen des Syſtems von Urſachen und Wirkungen, welche für den Willen Raum gelaſſen hätte, dem Begriff der Kauſalität abzugewinnen. Die Formel, zu welcher an dieſem Punkte das metaphyſiſche Denken des Mittelalters gelangte, war die folgende. 1) S. 403 ff.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 420. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/443>, abgerufen am 22.11.2024.