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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Das metaphysische Reich immaterieller Substanzen.
Gliederung der Geisterwelt ab, nach welcher Gott getrennt ist vom
Reiche der Engel, dieses von dem der menschlichen Seelen 1). Und
so hat die mittelalterliche Philosophie eine vollständige Metaphysik
der geistigen Substanzen geschaffen, die lange in dem Denken der
europäischen Völker ihre Macht behauptet hat, auch nachdem seit
Duns Scotus die Angriffe gegen sie beständig an Ausdehnung
und Gewicht zunahmen.

Wir nähern uns der erhabenen Konception des Mittelalters,
welche nun der Metaphysik der Natur als der Schöpfung des
griechischen Geistes zur Seite trat. Sie besteht in der auf die
Lehre von den geistigen Substanzen gegründeten Philosophie der
Geschichte und Gesellschaft. Wie vielfach auch das mittelalter-
liche Denken von dem der alten Völker abhängig gewesen ist: hier
ist es schöpferisch, und die am meisten auffälligen Züge in der
politischen Thätigkeit des mittelalterlichen Menschen sind durch dieses
System von Vorstellungen mitbedingt; mag man nun den theo-
kratischen Charakter der mittelalterlichen Gesellschaft betrachten oder
die Macht der Kaiseridee in derselben oder die der Einheit der
Christenheit, wie sie am gewaltigsten in den Kreuzzügen hervor-
tritt. So zeigt sich von neuem, wie bedeutend die Funktion
gewesen ist, welche die Metaphysik innerhalb der europäischen
Gesellschaft auszuüben hatte. Es wird zugleich sichtbar, wie vor
ihr, während sie voranschritt, eine unlösbare Antinomie nach der
anderen sich aufthat, da sie doch keine wirklich gelöst hinter sich
zurückließ. Sie gleicht den sagenhaften Helden, welche, je mehr sie
ringen, um so fester sich in Banden verstrickt finden.

Die geistigen Substanzen, welche das Reich Gottes bilden,
werden von dieser Metaphysik in ihrem Mittelpunkt, als Willen,
gefaßt und so besteht nach ihr das menschliche und geschichtliche
Leben in dem Zusammenwirken des Wollens dieser ge-
schaffenen Substanzen
mit der göttlichen Providenz,
welche in ihrer Willensmacht sie alle ihrem Ziele entgegenführt.

1) In demselben Zusammenhang der Argumentation ebendaselbst
vo p. 199b ab entwickelt.
27*

Das metaphyſiſche Reich immaterieller Subſtanzen.
Gliederung der Geiſterwelt ab, nach welcher Gott getrennt iſt vom
Reiche der Engel, dieſes von dem der menſchlichen Seelen 1). Und
ſo hat die mittelalterliche Philoſophie eine vollſtändige Metaphyſik
der geiſtigen Subſtanzen geſchaffen, die lange in dem Denken der
europäiſchen Völker ihre Macht behauptet hat, auch nachdem ſeit
Duns Scotus die Angriffe gegen ſie beſtändig an Ausdehnung
und Gewicht zunahmen.

Wir nähern uns der erhabenen Konception des Mittelalters,
welche nun der Metaphyſik der Natur als der Schöpfung des
griechiſchen Geiſtes zur Seite trat. Sie beſteht in der auf die
Lehre von den geiſtigen Subſtanzen gegründeten Philoſophie der
Geſchichte und Geſellſchaft. Wie vielfach auch das mittelalter-
liche Denken von dem der alten Völker abhängig geweſen iſt: hier
iſt es ſchöpferiſch, und die am meiſten auffälligen Züge in der
politiſchen Thätigkeit des mittelalterlichen Menſchen ſind durch dieſes
Syſtem von Vorſtellungen mitbedingt; mag man nun den theo-
kratiſchen Charakter der mittelalterlichen Geſellſchaft betrachten oder
die Macht der Kaiſeridee in derſelben oder die der Einheit der
Chriſtenheit, wie ſie am gewaltigſten in den Kreuzzügen hervor-
tritt. So zeigt ſich von neuem, wie bedeutend die Funktion
geweſen iſt, welche die Metaphyſik innerhalb der europäiſchen
Geſellſchaft auszuüben hatte. Es wird zugleich ſichtbar, wie vor
ihr, während ſie voranſchritt, eine unlösbare Antinomie nach der
anderen ſich aufthat, da ſie doch keine wirklich gelöſt hinter ſich
zurückließ. Sie gleicht den ſagenhaften Helden, welche, je mehr ſie
ringen, um ſo feſter ſich in Banden verſtrickt finden.

Die geiſtigen Subſtanzen, welche das Reich Gottes bilden,
werden von dieſer Metaphyſik in ihrem Mittelpunkt, als Willen,
gefaßt und ſo beſteht nach ihr das menſchliche und geſchichtliche
Leben in dem Zuſammenwirken des Wollens dieſer ge-
ſchaffenen Subſtanzen
mit der göttlichen Providenz,
welche in ihrer Willensmacht ſie alle ihrem Ziele entgegenführt.

1) In demſelben Zuſammenhang der Argumentation ebendaſelbſt
vo p. 199b ab entwickelt.
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[419/0442] Das metaphyſiſche Reich immaterieller Subſtanzen. Gliederung der Geiſterwelt ab, nach welcher Gott getrennt iſt vom Reiche der Engel, dieſes von dem der menſchlichen Seelen 1). Und ſo hat die mittelalterliche Philoſophie eine vollſtändige Metaphyſik der geiſtigen Subſtanzen geſchaffen, die lange in dem Denken der europäiſchen Völker ihre Macht behauptet hat, auch nachdem ſeit Duns Scotus die Angriffe gegen ſie beſtändig an Ausdehnung und Gewicht zunahmen. Wir nähern uns der erhabenen Konception des Mittelalters, welche nun der Metaphyſik der Natur als der Schöpfung des griechiſchen Geiſtes zur Seite trat. Sie beſteht in der auf die Lehre von den geiſtigen Subſtanzen gegründeten Philoſophie der Geſchichte und Geſellſchaft. Wie vielfach auch das mittelalter- liche Denken von dem der alten Völker abhängig geweſen iſt: hier iſt es ſchöpferiſch, und die am meiſten auffälligen Züge in der politiſchen Thätigkeit des mittelalterlichen Menſchen ſind durch dieſes Syſtem von Vorſtellungen mitbedingt; mag man nun den theo- kratiſchen Charakter der mittelalterlichen Geſellſchaft betrachten oder die Macht der Kaiſeridee in derſelben oder die der Einheit der Chriſtenheit, wie ſie am gewaltigſten in den Kreuzzügen hervor- tritt. So zeigt ſich von neuem, wie bedeutend die Funktion geweſen iſt, welche die Metaphyſik innerhalb der europäiſchen Geſellſchaft auszuüben hatte. Es wird zugleich ſichtbar, wie vor ihr, während ſie voranſchritt, eine unlösbare Antinomie nach der anderen ſich aufthat, da ſie doch keine wirklich gelöſt hinter ſich zurückließ. Sie gleicht den ſagenhaften Helden, welche, je mehr ſie ringen, um ſo feſter ſich in Banden verſtrickt finden. Die geiſtigen Subſtanzen, welche das Reich Gottes bilden, werden von dieſer Metaphyſik in ihrem Mittelpunkt, als Willen, gefaßt und ſo beſteht nach ihr das menſchliche und geſchichtliche Leben in dem Zuſammenwirken des Wollens dieſer ge- ſchaffenen Subſtanzen mit der göttlichen Providenz, welche in ihrer Willensmacht ſie alle ihrem Ziele entgegenführt. 1) In demſelben Zuſammenhang der Argumentation ebendaſelbſt vo p. 199b ab entwickelt. 27*

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 419. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/442>, abgerufen am 23.11.2024.