Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Erstes einleitendes Buch.
treten aus dem Reich der Personen würde in dem Geistigen seinen
Grund haben. Das System solcher Individuen würde in reinen
Geisteswissenschaften erkannt werden. In Wirklichkeit entsteht ein
Individuum, wird erhalten und entwickelt sich auf Grund der
Funktionen des thierischen Organismus und ihrer Beziehungen zu
dem umgebenden Naturlauf; sein Lebensgefühl ist wenigstens
theilweise in diesen Funktionen gegründet; seine Eindrücke sind
von den Sinnesorganen und ihren Affektionen seitens der Außen-
welt bedingt; den Reichthum und die Beweglichkeit seiner Vor-
stellungen und die Stärke sowie die Richtung seiner Willensakte
finden wir vielfach von Veränderungen in seinem Nervensystem
abhängig. Sein Willensantrieb bringt Muskelfasern zur Ver-
kürzung und so ist sein Wirken nach außen an Veränderungen in
den Lageverhältnissen der Massentheilchen des Organismus ge-
bunden; dauernde Erfolge seiner Willenshandlungen existiren nur
in der Form von Veränderungen innerhalb der materiellen Welt.
So ist das geistige Leben eines Menschen ein nur durch Abstrak-
tion loslösbarer Theil der psycho-physischen Lebenseinheit, als
welche ein Menschendasein und Menschenleben sich darstellt. Das
System dieser Lebenseinheiten ist die Wirklichkeit, welche den Gegen-
stand der geschichtlich-gesellschaftlichen Wissenschaften ausmacht.

Und zwar ist der Mensch als Lebenseinheit, vermöge des
doppelten Standpunktes unserer Auffassung (gleichviel welcher der
metaphysische Thatbestand sei), so weit inneres Gewahrwerden
reicht, als ein Zusammenhang geistiger Thatsachen, so weit wir
dagegen mit den Sinnen auffassen, als ein körperliches Ganze für
uns da. Inneres Gewahrwerden und äußere Auffassung finden
niemals in demselben Akte statt und daher ist uns die Thatsache
des geistigen Lebens nie mit der unseres Körpers zugleich gegeben.
Hieraus ergeben sich mit Nothwendigkeit zwei verschiedene, nicht in
einander aufhebbare Standpunkte für die wissenschaftliche Auffassung,
welche die geistigen Thatsachen und die Körperwelt in ihrem Zu-
sammenhang, dessen Ausdruck die psycho-physische Lebenseinheit
ist, erfassen will. Gehe ich von der inneren Erfahrung aus, so
finde ich die gesammte Außenwelt in meinem Bewußtsein gegeben,

Erſtes einleitendes Buch.
treten aus dem Reich der Perſonen würde in dem Geiſtigen ſeinen
Grund haben. Das Syſtem ſolcher Individuen würde in reinen
Geiſteswiſſenſchaften erkannt werden. In Wirklichkeit entſteht ein
Individuum, wird erhalten und entwickelt ſich auf Grund der
Funktionen des thieriſchen Organismus und ihrer Beziehungen zu
dem umgebenden Naturlauf; ſein Lebensgefühl iſt wenigſtens
theilweiſe in dieſen Funktionen gegründet; ſeine Eindrücke ſind
von den Sinnesorganen und ihren Affektionen ſeitens der Außen-
welt bedingt; den Reichthum und die Beweglichkeit ſeiner Vor-
ſtellungen und die Stärke ſowie die Richtung ſeiner Willensakte
finden wir vielfach von Veränderungen in ſeinem Nervenſyſtem
abhängig. Sein Willensantrieb bringt Muskelfaſern zur Ver-
kürzung und ſo iſt ſein Wirken nach außen an Veränderungen in
den Lageverhältniſſen der Maſſentheilchen des Organismus ge-
bunden; dauernde Erfolge ſeiner Willenshandlungen exiſtiren nur
in der Form von Veränderungen innerhalb der materiellen Welt.
So iſt das geiſtige Leben eines Menſchen ein nur durch Abſtrak-
tion loslösbarer Theil der pſycho-phyſiſchen Lebenseinheit, als
welche ein Menſchendaſein und Menſchenleben ſich darſtellt. Das
Syſtem dieſer Lebenseinheiten iſt die Wirklichkeit, welche den Gegen-
ſtand der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wiſſenſchaften ausmacht.

Und zwar iſt der Menſch als Lebenseinheit, vermöge des
doppelten Standpunktes unſerer Auffaſſung (gleichviel welcher der
metaphyſiſche Thatbeſtand ſei), ſo weit inneres Gewahrwerden
reicht, als ein Zuſammenhang geiſtiger Thatſachen, ſo weit wir
dagegen mit den Sinnen auffaſſen, als ein körperliches Ganze für
uns da. Inneres Gewahrwerden und äußere Auffaſſung finden
niemals in demſelben Akte ſtatt und daher iſt uns die Thatſache
des geiſtigen Lebens nie mit der unſeres Körpers zugleich gegeben.
Hieraus ergeben ſich mit Nothwendigkeit zwei verſchiedene, nicht in
einander aufhebbare Standpunkte für die wiſſenſchaftliche Auffaſſung,
welche die geiſtigen Thatſachen und die Körperwelt in ihrem Zu-
ſammenhang, deſſen Ausdruck die pſycho-phyſiſche Lebenseinheit
iſt, erfaſſen will. Gehe ich von der inneren Erfahrung aus, ſo
finde ich die geſammte Außenwelt in meinem Bewußtſein gegeben,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0041" n="18"/><fw place="top" type="header">Er&#x017F;tes einleitendes Buch.</fw><lb/>
treten aus dem Reich der Per&#x017F;onen würde in dem Gei&#x017F;tigen &#x017F;einen<lb/>
Grund haben. Das Sy&#x017F;tem &#x017F;olcher Individuen würde in reinen<lb/>
Gei&#x017F;teswi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften erkannt werden. In Wirklichkeit ent&#x017F;teht ein<lb/>
Individuum, wird erhalten und entwickelt &#x017F;ich auf Grund der<lb/>
Funktionen des thieri&#x017F;chen Organismus und ihrer Beziehungen zu<lb/>
dem umgebenden Naturlauf; &#x017F;ein Lebensgefühl i&#x017F;t wenig&#x017F;tens<lb/>
theilwei&#x017F;e in die&#x017F;en Funktionen gegründet; &#x017F;eine Eindrücke &#x017F;ind<lb/>
von den Sinnesorganen und ihren Affektionen &#x017F;eitens der Außen-<lb/>
welt bedingt; den Reichthum und die Beweglichkeit &#x017F;einer Vor-<lb/>
&#x017F;tellungen und die Stärke &#x017F;owie die Richtung &#x017F;einer Willensakte<lb/>
finden wir vielfach von Veränderungen in &#x017F;einem Nerven&#x017F;y&#x017F;tem<lb/>
abhängig. Sein Willensantrieb bringt Muskelfa&#x017F;ern zur Ver-<lb/>
kürzung und &#x017F;o i&#x017F;t &#x017F;ein Wirken nach außen an Veränderungen in<lb/>
den Lageverhältni&#x017F;&#x017F;en der Ma&#x017F;&#x017F;entheilchen des Organismus ge-<lb/>
bunden; dauernde Erfolge &#x017F;einer Willenshandlungen exi&#x017F;tiren nur<lb/>
in der Form von Veränderungen innerhalb der materiellen Welt.<lb/>
So i&#x017F;t das gei&#x017F;tige Leben eines Men&#x017F;chen ein nur durch Ab&#x017F;trak-<lb/>
tion loslösbarer Theil der p&#x017F;ycho-phy&#x017F;i&#x017F;chen Lebenseinheit, als<lb/>
welche ein Men&#x017F;chenda&#x017F;ein und Men&#x017F;chenleben &#x017F;ich dar&#x017F;tellt. Das<lb/>
Sy&#x017F;tem die&#x017F;er Lebenseinheiten i&#x017F;t die Wirklichkeit, welche den Gegen-<lb/>
&#x017F;tand der ge&#x017F;chichtlich-ge&#x017F;ell&#x017F;chaftlichen Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften ausmacht.</p><lb/>
          <p>Und zwar i&#x017F;t der Men&#x017F;ch als Lebenseinheit, vermöge des<lb/>
doppelten Standpunktes un&#x017F;erer Auffa&#x017F;&#x017F;ung (gleichviel welcher der<lb/>
metaphy&#x017F;i&#x017F;che Thatbe&#x017F;tand &#x017F;ei), &#x017F;o weit inneres Gewahrwerden<lb/>
reicht, als ein Zu&#x017F;ammenhang gei&#x017F;tiger That&#x017F;achen, &#x017F;o weit wir<lb/>
dagegen mit den Sinnen auffa&#x017F;&#x017F;en, als ein körperliches Ganze für<lb/>
uns da. Inneres Gewahrwerden und äußere Auffa&#x017F;&#x017F;ung finden<lb/>
niemals in dem&#x017F;elben Akte &#x017F;tatt und daher i&#x017F;t uns die That&#x017F;ache<lb/>
des gei&#x017F;tigen Lebens nie mit der un&#x017F;eres Körpers zugleich gegeben.<lb/>
Hieraus ergeben &#x017F;ich mit Nothwendigkeit zwei ver&#x017F;chiedene, nicht in<lb/>
einander aufhebbare Standpunkte für die wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftliche Auffa&#x017F;&#x017F;ung,<lb/>
welche die gei&#x017F;tigen That&#x017F;achen und die Körperwelt in ihrem Zu-<lb/>
&#x017F;ammenhang, de&#x017F;&#x017F;en Ausdruck die p&#x017F;ycho-phy&#x017F;i&#x017F;che Lebenseinheit<lb/>
i&#x017F;t, erfa&#x017F;&#x017F;en will. Gehe ich von der inneren Erfahrung aus, &#x017F;o<lb/>
finde ich die ge&#x017F;ammte Außenwelt in meinem Bewußt&#x017F;ein gegeben,<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[18/0041] Erſtes einleitendes Buch. treten aus dem Reich der Perſonen würde in dem Geiſtigen ſeinen Grund haben. Das Syſtem ſolcher Individuen würde in reinen Geiſteswiſſenſchaften erkannt werden. In Wirklichkeit entſteht ein Individuum, wird erhalten und entwickelt ſich auf Grund der Funktionen des thieriſchen Organismus und ihrer Beziehungen zu dem umgebenden Naturlauf; ſein Lebensgefühl iſt wenigſtens theilweiſe in dieſen Funktionen gegründet; ſeine Eindrücke ſind von den Sinnesorganen und ihren Affektionen ſeitens der Außen- welt bedingt; den Reichthum und die Beweglichkeit ſeiner Vor- ſtellungen und die Stärke ſowie die Richtung ſeiner Willensakte finden wir vielfach von Veränderungen in ſeinem Nervenſyſtem abhängig. Sein Willensantrieb bringt Muskelfaſern zur Ver- kürzung und ſo iſt ſein Wirken nach außen an Veränderungen in den Lageverhältniſſen der Maſſentheilchen des Organismus ge- bunden; dauernde Erfolge ſeiner Willenshandlungen exiſtiren nur in der Form von Veränderungen innerhalb der materiellen Welt. So iſt das geiſtige Leben eines Menſchen ein nur durch Abſtrak- tion loslösbarer Theil der pſycho-phyſiſchen Lebenseinheit, als welche ein Menſchendaſein und Menſchenleben ſich darſtellt. Das Syſtem dieſer Lebenseinheiten iſt die Wirklichkeit, welche den Gegen- ſtand der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wiſſenſchaften ausmacht. Und zwar iſt der Menſch als Lebenseinheit, vermöge des doppelten Standpunktes unſerer Auffaſſung (gleichviel welcher der metaphyſiſche Thatbeſtand ſei), ſo weit inneres Gewahrwerden reicht, als ein Zuſammenhang geiſtiger Thatſachen, ſo weit wir dagegen mit den Sinnen auffaſſen, als ein körperliches Ganze für uns da. Inneres Gewahrwerden und äußere Auffaſſung finden niemals in demſelben Akte ſtatt und daher iſt uns die Thatſache des geiſtigen Lebens nie mit der unſeres Körpers zugleich gegeben. Hieraus ergeben ſich mit Nothwendigkeit zwei verſchiedene, nicht in einander aufhebbare Standpunkte für die wiſſenſchaftliche Auffaſſung, welche die geiſtigen Thatſachen und die Körperwelt in ihrem Zu- ſammenhang, deſſen Ausdruck die pſycho-phyſiſche Lebenseinheit iſt, erfaſſen will. Gehe ich von der inneren Erfahrung aus, ſo finde ich die geſammte Außenwelt in meinem Bewußtſein gegeben,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/41
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/41>, abgerufen am 26.04.2024.