Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Verhältniß dieses Ganzen zu dem der Naturwissenschaften.
Schranke alles Erfahrens nicht aufzuheben vermag: was sicher ist,
aber nichts gegen die Unterordnung des Geistes unter das Natur-
erkennen entscheidet. Und er behauptet alsdann, daß dieser Versuch
an dem Widerspruch scheitern muß, welcher zwischen unserer Vor-
stellung der Materie und der Eigenschaft der Einheit, die un-
serem Bewußtsein zukommt, besteht. In seiner späteren Polemik
gegen Häckel fügt er diesem Argument das andere hinzu, daß
unter solcher Annahme ein weiterer Widerspruch zwischen der
Art, wie ein materieller Bestandtheil im Naturzusammenhang
mechanisch bedingt ist, und dem Erlebniß der Spontaneität des
Willens entsteht; ein "Wille" (in den Bestandtheilen der Materie),
der "wollen soll, er mag wollen oder nicht und das im geraden
Verhältniß des Produktes der Massen und im umgekehrten des
Quadrates der Entfernungen" ist eine contradictio in adjecto1).



III.
Das Verhältniß dieses Ganzen zu dem der Naturwissenschaften.

Jedoch in einem weiten Umfang fassen die Geisteswissen-
schaften Naturthatsachen in sich, haben Naturerkenntniß zur
Grundlage.

Dächte man sich rein geistige Wesen in einem aus solchen
allein bestehenden Personenreich, so würde ihr Hervortreten,
ihre Erhaltung und Entwicklung, wie ihr Verschwinden (welche
Vorstellungen man auch von dem Hintergrund sich bilde, aus
welchem sie hervorträten und in den sie wieder zurücktreten wür-
den), an Bedingungen geistiger Art gebunden sein; ihr Wohlsein
wäre in ihrer Lage zur geistigen Welt gegründet; ihre Verbindung
untereinander, ihre Handlungen aufeinander würden sich durch
rein geistige Mittel vollziehen und die dauernden Wirkungen ihrer
Handlungen würden rein geistiger Art sein; selbst ihr Zurück-

1) Welt-Räthsel S. 8.
Dilthey, Einleitung. 2

Verhältniß dieſes Ganzen zu dem der Naturwiſſenſchaften.
Schranke alles Erfahrens nicht aufzuheben vermag: was ſicher iſt,
aber nichts gegen die Unterordnung des Geiſtes unter das Natur-
erkennen entſcheidet. Und er behauptet alsdann, daß dieſer Verſuch
an dem Widerſpruch ſcheitern muß, welcher zwiſchen unſerer Vor-
ſtellung der Materie und der Eigenſchaft der Einheit, die un-
ſerem Bewußtſein zukommt, beſteht. In ſeiner ſpäteren Polemik
gegen Häckel fügt er dieſem Argument das andere hinzu, daß
unter ſolcher Annahme ein weiterer Widerſpruch zwiſchen der
Art, wie ein materieller Beſtandtheil im Naturzuſammenhang
mechaniſch bedingt iſt, und dem Erlebniß der Spontaneität des
Willens entſteht; ein „Wille“ (in den Beſtandtheilen der Materie),
der „wollen ſoll, er mag wollen oder nicht und das im geraden
Verhältniß des Produktes der Maſſen und im umgekehrten des
Quadrates der Entfernungen“ iſt eine contradictio in adjecto1).



III.
Das Verhältniß dieſes Ganzen zu dem der Naturwiſſenſchaften.

Jedoch in einem weiten Umfang faſſen die Geiſteswiſſen-
ſchaften Naturthatſachen in ſich, haben Naturerkenntniß zur
Grundlage.

Dächte man ſich rein geiſtige Weſen in einem aus ſolchen
allein beſtehenden Perſonenreich, ſo würde ihr Hervortreten,
ihre Erhaltung und Entwicklung, wie ihr Verſchwinden (welche
Vorſtellungen man auch von dem Hintergrund ſich bilde, aus
welchem ſie hervorträten und in den ſie wieder zurücktreten wür-
den), an Bedingungen geiſtiger Art gebunden ſein; ihr Wohlſein
wäre in ihrer Lage zur geiſtigen Welt gegründet; ihre Verbindung
untereinander, ihre Handlungen aufeinander würden ſich durch
rein geiſtige Mittel vollziehen und die dauernden Wirkungen ihrer
Handlungen würden rein geiſtiger Art ſein; ſelbſt ihr Zurück-

1) Welt-Räthſel S. 8.
Dilthey, Einleitung. 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0040" n="17"/><fw place="top" type="header">Verhältniß die&#x017F;es Ganzen zu dem der Naturwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften.</fw><lb/>
Schranke alles Erfahrens nicht aufzuheben vermag: was &#x017F;icher i&#x017F;t,<lb/>
aber nichts gegen die Unterordnung des Gei&#x017F;tes unter das Natur-<lb/>
erkennen ent&#x017F;cheidet. Und er behauptet alsdann, daß die&#x017F;er Ver&#x017F;uch<lb/>
an dem Wider&#x017F;pruch &#x017F;cheitern muß, welcher zwi&#x017F;chen un&#x017F;erer Vor-<lb/>
&#x017F;tellung der Materie und der Eigen&#x017F;chaft der Einheit, die un-<lb/>
&#x017F;erem Bewußt&#x017F;ein zukommt, be&#x017F;teht. In &#x017F;einer &#x017F;päteren Polemik<lb/>
gegen Häckel fügt er die&#x017F;em Argument das andere hinzu, daß<lb/>
unter &#x017F;olcher Annahme ein weiterer Wider&#x017F;pruch zwi&#x017F;chen der<lb/>
Art, wie ein materieller Be&#x017F;tandtheil im Naturzu&#x017F;ammenhang<lb/>
mechani&#x017F;ch bedingt i&#x017F;t, und dem Erlebniß der Spontaneität des<lb/>
Willens ent&#x017F;teht; ein &#x201E;Wille&#x201C; (in den Be&#x017F;tandtheilen der Materie),<lb/>
der &#x201E;wollen &#x017F;oll, er mag wollen oder nicht und das im geraden<lb/>
Verhältniß des Produktes der Ma&#x017F;&#x017F;en und im umgekehrten des<lb/>
Quadrates der Entfernungen&#x201C; i&#x017F;t eine <hi rendition="#aq">contradictio in adjecto</hi><note place="foot" n="1)">Welt-Räth&#x017F;el S. 8.</note>.</p>
        </div><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#aq">III.</hi><lb/> <hi rendition="#b">Das Verhältniß die&#x017F;es Ganzen zu dem der Naturwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften.</hi> </head><lb/>
          <p>Jedoch in einem weiten Umfang fa&#x017F;&#x017F;en die Gei&#x017F;teswi&#x017F;&#x017F;en-<lb/>
&#x017F;chaften Naturthat&#x017F;achen in &#x017F;ich, haben Naturerkenntniß zur<lb/>
Grundlage.</p><lb/>
          <p>Dächte man &#x017F;ich rein gei&#x017F;tige We&#x017F;en in einem aus &#x017F;olchen<lb/>
allein be&#x017F;tehenden Per&#x017F;onenreich, &#x017F;o würde ihr Hervortreten,<lb/>
ihre Erhaltung und Entwicklung, wie ihr Ver&#x017F;chwinden (welche<lb/>
Vor&#x017F;tellungen man auch von dem Hintergrund &#x017F;ich bilde, aus<lb/>
welchem &#x017F;ie hervorträten und in den &#x017F;ie wieder zurücktreten wür-<lb/>
den), an Bedingungen gei&#x017F;tiger Art gebunden &#x017F;ein; ihr Wohl&#x017F;ein<lb/>
wäre in ihrer Lage zur gei&#x017F;tigen Welt gegründet; ihre Verbindung<lb/>
untereinander, ihre Handlungen aufeinander würden &#x017F;ich durch<lb/>
rein gei&#x017F;tige Mittel vollziehen und die dauernden Wirkungen ihrer<lb/>
Handlungen würden rein gei&#x017F;tiger Art &#x017F;ein; &#x017F;elb&#x017F;t ihr Zurück-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Dilthey</hi>, Einleitung. 2</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[17/0040] Verhältniß dieſes Ganzen zu dem der Naturwiſſenſchaften. Schranke alles Erfahrens nicht aufzuheben vermag: was ſicher iſt, aber nichts gegen die Unterordnung des Geiſtes unter das Natur- erkennen entſcheidet. Und er behauptet alsdann, daß dieſer Verſuch an dem Widerſpruch ſcheitern muß, welcher zwiſchen unſerer Vor- ſtellung der Materie und der Eigenſchaft der Einheit, die un- ſerem Bewußtſein zukommt, beſteht. In ſeiner ſpäteren Polemik gegen Häckel fügt er dieſem Argument das andere hinzu, daß unter ſolcher Annahme ein weiterer Widerſpruch zwiſchen der Art, wie ein materieller Beſtandtheil im Naturzuſammenhang mechaniſch bedingt iſt, und dem Erlebniß der Spontaneität des Willens entſteht; ein „Wille“ (in den Beſtandtheilen der Materie), der „wollen ſoll, er mag wollen oder nicht und das im geraden Verhältniß des Produktes der Maſſen und im umgekehrten des Quadrates der Entfernungen“ iſt eine contradictio in adjecto 1). III. Das Verhältniß dieſes Ganzen zu dem der Naturwiſſenſchaften. Jedoch in einem weiten Umfang faſſen die Geiſteswiſſen- ſchaften Naturthatſachen in ſich, haben Naturerkenntniß zur Grundlage. Dächte man ſich rein geiſtige Weſen in einem aus ſolchen allein beſtehenden Perſonenreich, ſo würde ihr Hervortreten, ihre Erhaltung und Entwicklung, wie ihr Verſchwinden (welche Vorſtellungen man auch von dem Hintergrund ſich bilde, aus welchem ſie hervorträten und in den ſie wieder zurücktreten wür- den), an Bedingungen geiſtiger Art gebunden ſein; ihr Wohlſein wäre in ihrer Lage zur geiſtigen Welt gegründet; ihre Verbindung untereinander, ihre Handlungen aufeinander würden ſich durch rein geiſtige Mittel vollziehen und die dauernden Wirkungen ihrer Handlungen würden rein geiſtiger Art ſein; ſelbſt ihr Zurück- 1) Welt-Räthſel S. 8. Dilthey, Einleitung. 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/40
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/40>, abgerufen am 23.11.2024.