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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Die psycho-physische Lebenseinheit.
die Gesetze dieses Naturganzen unter den Bedingungen meines
Bewußtseins stehend und sonach von ihnen abhängig. Dies ist
der Standpunkt, welchen die deutsche Philosophie an der Grenze
des achtzehnten und unseres Jahrhunderts als Transscendental-
Philosophie bezeichnete. Nehme ich dagegen den Naturzusammenhang,
so wie er als Realität vor mir in meinem natürlichen Auffassen
steht, und gewahre in die zeitliche Abfolge dieser Außenwelt sowie
in ihre räumliche Vertheilung psychische Thatsachen mit eingeordnet,
finde ich von dem Eingriff, welchen die Natur selber oder das
Experiment macht und welcher in materiellen Veränderungen be-
steht, wann diese an das Nervensystem herandringen, Veränderungen
des geistigen Lebens abhängig, erweitert Beobachtung der Lebens-
entwicklung und der krankhaften Zustände diese Erfahrungen zu
dem umfassenden Bilde der Bedingtheit des Geistigen durch das
Körperliche: dann entsteht die Auffassung des Naturforschers,
welcher von außen nach innen, von der materiellen Veränderung
zur geistigen Veränderung vorandringt. So ist der Antagonismus
zwischen dem Philosophen und dem Naturforscher durch den
Gegensatz ihrer Ausgangspunkte bedingt.

Wir nehmen nun unseren Ausgangspunkt in der Betrach-
tungsweise der Naturwissenschaft. Sofern diese Betrachtungsweise
sich ihrer Grenzen bewußt bleibt, sind ihre Ergebnisse unbestreitbar.
Sie empfangen nur von dem Standpunkt der inneren Erfahrung
aus die nähere Bestimmung ihres Erkenntnißwerthes. Die Natur-
wissenschaft zergliedert den ursächlichen Zusammenhang des Natur-
laufes. Wo diese Zergliederung die Punkte erreicht hat, an welchen
ein materieller Thatbestand oder eine materielle Veränderung regel-
mäßig mit einem psychischen Thatbestand oder einer psychischen
Veränderung verbunden ist, ohne daß zwischen ihnen ein weiteres
Zwischenglied auffindbar wäre: da kann eben nur diese regelmäßige
Beziehung selber festgestellt werden, das Verhältniß von Ursache und
Wirkung kann aber auf diese Beziehung nicht angewandt werden.
Wir finden Gleichförmigkeiten des einen Lebenskreises regelmäßig mit
solchen des anderen verknüpft und der mathematische Begriff der
Funktion ist der Ausdruck dieses Verhältnisses. Eine Auffassung

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Die pſycho-phyſiſche Lebenseinheit.
die Geſetze dieſes Naturganzen unter den Bedingungen meines
Bewußtſeins ſtehend und ſonach von ihnen abhängig. Dies iſt
der Standpunkt, welchen die deutſche Philoſophie an der Grenze
des achtzehnten und unſeres Jahrhunderts als Transſcendental-
Philoſophie bezeichnete. Nehme ich dagegen den Naturzuſammenhang,
ſo wie er als Realität vor mir in meinem natürlichen Auffaſſen
ſteht, und gewahre in die zeitliche Abfolge dieſer Außenwelt ſowie
in ihre räumliche Vertheilung pſychiſche Thatſachen mit eingeordnet,
finde ich von dem Eingriff, welchen die Natur ſelber oder das
Experiment macht und welcher in materiellen Veränderungen be-
ſteht, wann dieſe an das Nervenſyſtem herandringen, Veränderungen
des geiſtigen Lebens abhängig, erweitert Beobachtung der Lebens-
entwicklung und der krankhaften Zuſtände dieſe Erfahrungen zu
dem umfaſſenden Bilde der Bedingtheit des Geiſtigen durch das
Körperliche: dann entſteht die Auffaſſung des Naturforſchers,
welcher von außen nach innen, von der materiellen Veränderung
zur geiſtigen Veränderung vorandringt. So iſt der Antagonismus
zwiſchen dem Philoſophen und dem Naturforſcher durch den
Gegenſatz ihrer Ausgangspunkte bedingt.

Wir nehmen nun unſeren Ausgangspunkt in der Betrach-
tungsweiſe der Naturwiſſenſchaft. Sofern dieſe Betrachtungsweiſe
ſich ihrer Grenzen bewußt bleibt, ſind ihre Ergebniſſe unbeſtreitbar.
Sie empfangen nur von dem Standpunkt der inneren Erfahrung
aus die nähere Beſtimmung ihres Erkenntnißwerthes. Die Natur-
wiſſenſchaft zergliedert den urſächlichen Zuſammenhang des Natur-
laufes. Wo dieſe Zergliederung die Punkte erreicht hat, an welchen
ein materieller Thatbeſtand oder eine materielle Veränderung regel-
mäßig mit einem pſychiſchen Thatbeſtand oder einer pſychiſchen
Veränderung verbunden iſt, ohne daß zwiſchen ihnen ein weiteres
Zwiſchenglied auffindbar wäre: da kann eben nur dieſe regelmäßige
Beziehung ſelber feſtgeſtellt werden, das Verhältniß von Urſache und
Wirkung kann aber auf dieſe Beziehung nicht angewandt werden.
Wir finden Gleichförmigkeiten des einen Lebenskreiſes regelmäßig mit
ſolchen des anderen verknüpft und der mathematiſche Begriff der
Funktion iſt der Ausdruck dieſes Verhältniſſes. Eine Auffaſſung

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[19/0042] Die pſycho-phyſiſche Lebenseinheit. die Geſetze dieſes Naturganzen unter den Bedingungen meines Bewußtſeins ſtehend und ſonach von ihnen abhängig. Dies iſt der Standpunkt, welchen die deutſche Philoſophie an der Grenze des achtzehnten und unſeres Jahrhunderts als Transſcendental- Philoſophie bezeichnete. Nehme ich dagegen den Naturzuſammenhang, ſo wie er als Realität vor mir in meinem natürlichen Auffaſſen ſteht, und gewahre in die zeitliche Abfolge dieſer Außenwelt ſowie in ihre räumliche Vertheilung pſychiſche Thatſachen mit eingeordnet, finde ich von dem Eingriff, welchen die Natur ſelber oder das Experiment macht und welcher in materiellen Veränderungen be- ſteht, wann dieſe an das Nervenſyſtem herandringen, Veränderungen des geiſtigen Lebens abhängig, erweitert Beobachtung der Lebens- entwicklung und der krankhaften Zuſtände dieſe Erfahrungen zu dem umfaſſenden Bilde der Bedingtheit des Geiſtigen durch das Körperliche: dann entſteht die Auffaſſung des Naturforſchers, welcher von außen nach innen, von der materiellen Veränderung zur geiſtigen Veränderung vorandringt. So iſt der Antagonismus zwiſchen dem Philoſophen und dem Naturforſcher durch den Gegenſatz ihrer Ausgangspunkte bedingt. Wir nehmen nun unſeren Ausgangspunkt in der Betrach- tungsweiſe der Naturwiſſenſchaft. Sofern dieſe Betrachtungsweiſe ſich ihrer Grenzen bewußt bleibt, ſind ihre Ergebniſſe unbeſtreitbar. Sie empfangen nur von dem Standpunkt der inneren Erfahrung aus die nähere Beſtimmung ihres Erkenntnißwerthes. Die Natur- wiſſenſchaft zergliedert den urſächlichen Zuſammenhang des Natur- laufes. Wo dieſe Zergliederung die Punkte erreicht hat, an welchen ein materieller Thatbeſtand oder eine materielle Veränderung regel- mäßig mit einem pſychiſchen Thatbeſtand oder einer pſychiſchen Veränderung verbunden iſt, ohne daß zwiſchen ihnen ein weiteres Zwiſchenglied auffindbar wäre: da kann eben nur dieſe regelmäßige Beziehung ſelber feſtgeſtellt werden, das Verhältniß von Urſache und Wirkung kann aber auf dieſe Beziehung nicht angewandt werden. Wir finden Gleichförmigkeiten des einen Lebenskreiſes regelmäßig mit ſolchen des anderen verknüpft und der mathematiſche Begriff der Funktion iſt der Ausdruck dieſes Verhältniſſes. Eine Auffaſſung 2*

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/42>, abgerufen am 19.04.2024.