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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Uebertragung der Naturwissenschaft auf das Abendland.
Hilfsmittel theologischer Dialektik benützte und in Abälard eine
kühne Subjektivität die Rechte des Verstandes scharfsinniger geltend
machte, als je vorher geschehen. Wol zersetzte das negative
Treiben der theologischen Dialektiker jener Tage den Bestand der
überlieferten Dogmatik; wie in den entsprechenden Erscheinungen
des Islam, entwickelte sich aus den Antinomien der religiösen
Vorstellung unwiderstehlich der Zweifel bis zur Verzweiflung des
Verstandes, und vergebens suchten Bernhard von Clairvaux und
die Viktoriner in der Mystik den Frieden des Geistes. Aber erst
dann hörte die theologische Metaphysik auf, Mittelpunkt des ganzen
europäischen Denkens zu sein, als nun das Naturwissen und die
Naturphilosophie der Alten und der Araber über den Horizont
der abendländischen Christenheit traten und allmälig ganz sichtbar
wurden. Dies ist die größte Veränderung, welche im Verlauf der
intellektuellen Entwicklung Europas während des Mittelalters statt-
gefunden hat.

Diese Veränderung im Abendlande wurde durch die
wiederholten Verbote der naturwissenschaftlichen und metaphysischen
Schriften des Aristoteles nicht aufgehalten. Schon im ersten Drittel
des dreizehnten Jahrhunderts ist so ziemlich der ganze Körper der
aristotelischen Schriften übertragen. Die Systeme des Ibn Sina
und Ibn Roschd werden bekannt und bedrohen den christlichen
Glauben. Die abendländische Metaphysik des Mittelalters entsteht
zum Schutze dieses Glaubens aus der Verknüpfung der Theologie
des Christenthums und der von ihr ausgehenden metaphysischen
Philosophie der Geschichte mit dem arabischen Aristoteles und
der mit seinem Studium verbundenen Naturerkenntniß. Die Uni-
versität Paris wird, als Sitz dieser Metaphysik, zum Mittel-
punkt der geistigen Bewegung Europas. Ein Jahrhundert hin-
durch von der Mitte des dreizehnten ab, während Albert der
Große und sein Schüler vom Kölner Dominikanerkloster, Thomas
von Aquino, Duns Scotus und der kühnste, gewaltigste der
Scholastiker, der papstfeindliche Wilhelm von Occam, lehren, sind
die Augen von ganz Europa auf diese neue Vernunftwissenschaft
und ihr Schicksal gerichtet. -- Zugleich ist nun das Material

Uebertragung der Naturwiſſenſchaft auf das Abendland.
Hilfsmittel theologiſcher Dialektik benützte und in Abälard eine
kühne Subjektivität die Rechte des Verſtandes ſcharfſinniger geltend
machte, als je vorher geſchehen. Wol zerſetzte das negative
Treiben der theologiſchen Dialektiker jener Tage den Beſtand der
überlieferten Dogmatik; wie in den entſprechenden Erſcheinungen
des Islam, entwickelte ſich aus den Antinomien der religiöſen
Vorſtellung unwiderſtehlich der Zweifel bis zur Verzweiflung des
Verſtandes, und vergebens ſuchten Bernhard von Clairvaux und
die Viktoriner in der Myſtik den Frieden des Geiſtes. Aber erſt
dann hörte die theologiſche Metaphyſik auf, Mittelpunkt des ganzen
europäiſchen Denkens zu ſein, als nun das Naturwiſſen und die
Naturphiloſophie der Alten und der Araber über den Horizont
der abendländiſchen Chriſtenheit traten und allmälig ganz ſichtbar
wurden. Dies iſt die größte Veränderung, welche im Verlauf der
intellektuellen Entwicklung Europas während des Mittelalters ſtatt-
gefunden hat.

Dieſe Veränderung im Abendlande wurde durch die
wiederholten Verbote der naturwiſſenſchaftlichen und metaphyſiſchen
Schriften des Ariſtoteles nicht aufgehalten. Schon im erſten Drittel
des dreizehnten Jahrhunderts iſt ſo ziemlich der ganze Körper der
ariſtoteliſchen Schriften übertragen. Die Syſteme des Ibn Sina
und Ibn Roſchd werden bekannt und bedrohen den chriſtlichen
Glauben. Die abendländiſche Metaphyſik des Mittelalters entſteht
zum Schutze dieſes Glaubens aus der Verknüpfung der Theologie
des Chriſtenthums und der von ihr ausgehenden metaphyſiſchen
Philoſophie der Geſchichte mit dem arabiſchen Ariſtoteles und
der mit ſeinem Studium verbundenen Naturerkenntniß. Die Uni-
verſität Paris wird, als Sitz dieſer Metaphyſik, zum Mittel-
punkt der geiſtigen Bewegung Europas. Ein Jahrhundert hin-
durch von der Mitte des dreizehnten ab, während Albert der
Große und ſein Schüler vom Kölner Dominikanerkloſter, Thomas
von Aquino, Duns Scotus und der kühnſte, gewaltigſte der
Scholaſtiker, der papſtfeindliche Wilhelm von Occam, lehren, ſind
die Augen von ganz Europa auf dieſe neue Vernunftwiſſenſchaft
und ihr Schickſal gerichtet. — Zugleich iſt nun das Material

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[379/0402] Uebertragung der Naturwiſſenſchaft auf das Abendland. Hilfsmittel theologiſcher Dialektik benützte und in Abälard eine kühne Subjektivität die Rechte des Verſtandes ſcharfſinniger geltend machte, als je vorher geſchehen. Wol zerſetzte das negative Treiben der theologiſchen Dialektiker jener Tage den Beſtand der überlieferten Dogmatik; wie in den entſprechenden Erſcheinungen des Islam, entwickelte ſich aus den Antinomien der religiöſen Vorſtellung unwiderſtehlich der Zweifel bis zur Verzweiflung des Verſtandes, und vergebens ſuchten Bernhard von Clairvaux und die Viktoriner in der Myſtik den Frieden des Geiſtes. Aber erſt dann hörte die theologiſche Metaphyſik auf, Mittelpunkt des ganzen europäiſchen Denkens zu ſein, als nun das Naturwiſſen und die Naturphiloſophie der Alten und der Araber über den Horizont der abendländiſchen Chriſtenheit traten und allmälig ganz ſichtbar wurden. Dies iſt die größte Veränderung, welche im Verlauf der intellektuellen Entwicklung Europas während des Mittelalters ſtatt- gefunden hat. Dieſe Veränderung im Abendlande wurde durch die wiederholten Verbote der naturwiſſenſchaftlichen und metaphyſiſchen Schriften des Ariſtoteles nicht aufgehalten. Schon im erſten Drittel des dreizehnten Jahrhunderts iſt ſo ziemlich der ganze Körper der ariſtoteliſchen Schriften übertragen. Die Syſteme des Ibn Sina und Ibn Roſchd werden bekannt und bedrohen den chriſtlichen Glauben. Die abendländiſche Metaphyſik des Mittelalters entſteht zum Schutze dieſes Glaubens aus der Verknüpfung der Theologie des Chriſtenthums und der von ihr ausgehenden metaphyſiſchen Philoſophie der Geſchichte mit dem arabiſchen Ariſtoteles und der mit ſeinem Studium verbundenen Naturerkenntniß. Die Uni- verſität Paris wird, als Sitz dieſer Metaphyſik, zum Mittel- punkt der geiſtigen Bewegung Europas. Ein Jahrhundert hin- durch von der Mitte des dreizehnten ab, während Albert der Große und ſein Schüler vom Kölner Dominikanerkloſter, Thomas von Aquino, Duns Scotus und der kühnſte, gewaltigſte der Scholaſtiker, der papſtfeindliche Wilhelm von Occam, lehren, ſind die Augen von ganz Europa auf dieſe neue Vernunftwiſſenſchaft und ihr Schickſal gerichtet. — Zugleich iſt nun das Material

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 379. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/402>, abgerufen am 25.11.2024.