welche dieser Gegensatz im Kosmos Symbol eines in der inneren Erfahrung gegebenen Gegensatzes war, gab diesem Schema eine gewaltigere Macht, als es in der alten Welt besitzen konnte. Und der Zusammenhang, welcher von der Gestirnwelt zu der ver- änderlichen Erde, ihrer Pflanzendecke und ihren Bewohnern reicht, nahm in sich als ihm völlig entsprechend die deskriptive Wissen- schaft des Kosmos auf.
So ging neben der Aneignung des Naturwissens der Griechen die Uebertragung des Aristoteles her. Dieselbe begann unter al Mamun, und während des neunten und zehnten Jahrhunderts wurden die Uebersetzungen des Aristoteles beständig vervollständigt. Auf dieser Grundlage, in Wechselwirkung mit dem lebendigen Naturstudium, erhielt die arabische Philosophie in Ibn Sina und Ibn Roschd ihre vollendete Gestalt: als eine selbständige Fortsetzung der peripatetischen Schule.
Während die Araber so vom neunten Jahrhundert ab Natur- erkenntniß wie aristotelische Wissenschaft neben der Theologie pflegten, hat im christlichen Abendlande, wo sich Alles in breiteren Massen entwickelte, die Theologie lange beinahe aus- schließlich geherrscht. Encyklopädien überlieferten todte Notizen über die Natur. Gerbert bringt im zehnten Jahrhundert aus Spanien etwas von dem Licht des arabischen Naturwissens, dann kehrt Con- stantinus Africanus von seinen Orientreisen mit medicinischen Schrif- ten zurück, Adelard von Bath gewinnt ebenfalls von den Arabern naturwissenschaftliche Kenntniß; aldann folgen einander dichter Uebertragungen von Aristoteles, seinen Kommentatoren und arabi- schen Physikern 1). Aber nur spärlich lichtet sich die Finsterniß, die über dem Naturwissen liegt. Das intellektuelle Leben des Abendlandes pulsirte bis zum Ende des zwölften Jahrhunderts in der Theologie und der ihr verbundenen metaphysischen Betrach- tung der menschlichen Geschichte und Gesellschaft. Auch änderte es hieran nichts, daß man die Logik des Aristoteles als ein mächtiges
1) Das Nähere bei Jourdain neben den recherches in seiner philo- sophie de Saint Thomas I, 40 ff.
Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
welche dieſer Gegenſatz im Kosmos Symbol eines in der inneren Erfahrung gegebenen Gegenſatzes war, gab dieſem Schema eine gewaltigere Macht, als es in der alten Welt beſitzen konnte. Und der Zuſammenhang, welcher von der Geſtirnwelt zu der ver- änderlichen Erde, ihrer Pflanzendecke und ihren Bewohnern reicht, nahm in ſich als ihm völlig entſprechend die deſkriptive Wiſſen- ſchaft des Kosmos auf.
So ging neben der Aneignung des Naturwiſſens der Griechen die Uebertragung des Ariſtoteles her. Dieſelbe begann unter al Mamun, und während des neunten und zehnten Jahrhunderts wurden die Ueberſetzungen des Ariſtoteles beſtändig vervollſtändigt. Auf dieſer Grundlage, in Wechſelwirkung mit dem lebendigen Naturſtudium, erhielt die arabiſche Philoſophie in Ibn Sina und Ibn Roſchd ihre vollendete Geſtalt: als eine ſelbſtändige Fortſetzung der peripatetiſchen Schule.
Während die Araber ſo vom neunten Jahrhundert ab Natur- erkenntniß wie ariſtoteliſche Wiſſenſchaft neben der Theologie pflegten, hat im chriſtlichen Abendlande, wo ſich Alles in breiteren Maſſen entwickelte, die Theologie lange beinahe aus- ſchließlich geherrſcht. Encyklopädien überlieferten todte Notizen über die Natur. Gerbert bringt im zehnten Jahrhundert aus Spanien etwas von dem Licht des arabiſchen Naturwiſſens, dann kehrt Con- ſtantinus Africanus von ſeinen Orientreiſen mit mediciniſchen Schrif- ten zurück, Adelard von Bath gewinnt ebenfalls von den Arabern naturwiſſenſchaftliche Kenntniß; aldann folgen einander dichter Uebertragungen von Ariſtoteles, ſeinen Kommentatoren und arabi- ſchen Phyſikern 1). Aber nur ſpärlich lichtet ſich die Finſterniß, die über dem Naturwiſſen liegt. Das intellektuelle Leben des Abendlandes pulſirte bis zum Ende des zwölften Jahrhunderts in der Theologie und der ihr verbundenen metaphyſiſchen Betrach- tung der menſchlichen Geſchichte und Geſellſchaft. Auch änderte es hieran nichts, daß man die Logik des Ariſtoteles als ein mächtiges
1) Das Nähere bei Jourdain neben den recherches in ſeiner philo- sophie de Saint Thomas I, 40 ff.
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Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
welche dieſer Gegenſatz im Kosmos Symbol eines in der inneren
Erfahrung gegebenen Gegenſatzes war, gab dieſem Schema eine
gewaltigere Macht, als es in der alten Welt beſitzen konnte. Und
der Zuſammenhang, welcher von der Geſtirnwelt zu der ver-
änderlichen Erde, ihrer Pflanzendecke und ihren Bewohnern reicht,
nahm in ſich als ihm völlig entſprechend die deſkriptive Wiſſen-
ſchaft des Kosmos auf.
So ging neben der Aneignung des Naturwiſſens der Griechen
die Uebertragung des Ariſtoteles her. Dieſelbe begann unter al
Mamun, und während des neunten und zehnten Jahrhunderts
wurden die Ueberſetzungen des Ariſtoteles beſtändig vervollſtändigt.
Auf dieſer Grundlage, in Wechſelwirkung mit dem lebendigen
Naturſtudium, erhielt die arabiſche Philoſophie in Ibn Sina und
Ibn Roſchd ihre vollendete Geſtalt: als eine ſelbſtändige Fortſetzung
der peripatetiſchen Schule.
Während die Araber ſo vom neunten Jahrhundert ab Natur-
erkenntniß wie ariſtoteliſche Wiſſenſchaft neben der Theologie
pflegten, hat im chriſtlichen Abendlande, wo ſich Alles in
breiteren Maſſen entwickelte, die Theologie lange beinahe aus-
ſchließlich geherrſcht. Encyklopädien überlieferten todte Notizen
über die Natur. Gerbert bringt im zehnten Jahrhundert aus Spanien
etwas von dem Licht des arabiſchen Naturwiſſens, dann kehrt Con-
ſtantinus Africanus von ſeinen Orientreiſen mit mediciniſchen Schrif-
ten zurück, Adelard von Bath gewinnt ebenfalls von den Arabern
naturwiſſenſchaftliche Kenntniß; aldann folgen einander dichter
Uebertragungen von Ariſtoteles, ſeinen Kommentatoren und arabi-
ſchen Phyſikern 1). Aber nur ſpärlich lichtet ſich die Finſterniß,
die über dem Naturwiſſen liegt. Das intellektuelle Leben des
Abendlandes pulſirte bis zum Ende des zwölften Jahrhunderts
in der Theologie und der ihr verbundenen metaphyſiſchen Betrach-
tung der menſchlichen Geſchichte und Geſellſchaft. Auch änderte es
hieran nichts, daß man die Logik des Ariſtoteles als ein mächtiges
1) Das Nähere bei Jourdain neben den recherches in ſeiner philo-
sophie de Saint Thomas I, 40 ff.
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 378. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/401>, abgerufen am 16.02.2025.
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