Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.Zweites Buch. Dritter Abschnitt. für eine selbständige Fortarbeit der abendländischen Christen inden Naturwissenschaften gegeben. Langsam, breit und tief ent- wickelte sich diese Arbeit. Die äußeren Bedingungen, unter welchen die Wissenschaften in den Klöstern und an von der Kirche geleiteten Anstalten sich befanden, unterstützten die Ueber- macht des theologisch-metaphysischen Interesses, und die Beschäf- tigung des Hofes Friedrich's des Zweiten mit den Naturwissen- schaften, wie sie durch das Vorbild der Kalifen hervorgerufen war, fand keine Nachfolge. Die politische Verfassung Europas gab den Problemen der Geschichte und des Staates sowie den Schriften hierüber ein Gewicht, welches sie in den Despotenreichen des Islam nicht besaßen. Der Gang der öffentlichen Ange- legenheiten im Abendlande war schon damals von Ideen mächtig beeinflußt, und diese zogen das öffentliche Interesse besonders auf sich. Die selbständige, ja geniale Fortarbeit des christlichen Abendlandes in dem Einzelwissen lag daher zunächst während des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts auf dem Gebiete der Geisteswissenschaften. So wurde die Erweiterung des Natur- wissens in erster Linie benützt, eine von Metaphysik getragene encyklopädische Einheit des Wissens herzustellen. Dieser Richtung des Geistes entsprachen die Schrift über die Natur der Dinge des Thomas von Cantiprato, der Naturspiegel des Vincenz von Beauvais, das Buch der Natur von Konrad von Megenberg, das Weltbild von Pierre d'Ailly, und die Gesammtthätigkeit des Albertus Magnus war von ihr bestimmt. Es kann noch nicht genügend beurtheilt werden, was von den Einzelergebnissen, welche uns zuerst bei Albertus begegnen, einem selbständigen Natur- studium entsprungen war; jedoch kann Förderung der beschrei- benden Naturwissenschaft in eigener Beobachtung und Untersuchung ihm nicht abgesprochen werden. Alsdann trat in Roger Ba- con das Bewußtsein von der Bedeutung der Mathematik als des "Alphabets der Philosophie" und der experimentalen Wissenschaft als der "Herrin der spekulativen Wissenschaften" hervor. Er ahnte die Macht einer auf Erfahrung gegründeten Erkenntniß der wirken- den Ursachen im Gegensatz zu syllogistischer Scheinwissenschaft, Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. für eine ſelbſtändige Fortarbeit der abendländiſchen Chriſten inden Naturwiſſenſchaften gegeben. Langſam, breit und tief ent- wickelte ſich dieſe Arbeit. Die äußeren Bedingungen, unter welchen die Wiſſenſchaften in den Klöſtern und an von der Kirche geleiteten Anſtalten ſich befanden, unterſtützten die Ueber- macht des theologiſch-metaphyſiſchen Intereſſes, und die Beſchäf- tigung des Hofes Friedrich’s des Zweiten mit den Naturwiſſen- ſchaften, wie ſie durch das Vorbild der Kalifen hervorgerufen war, fand keine Nachfolge. Die politiſche Verfaſſung Europas gab den Problemen der Geſchichte und des Staates ſowie den Schriften hierüber ein Gewicht, welches ſie in den Despotenreichen des Islam nicht beſaßen. Der Gang der öffentlichen Ange- legenheiten im Abendlande war ſchon damals von Ideen mächtig beeinflußt, und dieſe zogen das öffentliche Intereſſe beſonders auf ſich. Die ſelbſtändige, ja geniale Fortarbeit des chriſtlichen Abendlandes in dem Einzelwiſſen lag daher zunächſt während des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts auf dem Gebiete der Geiſteswiſſenſchaften. So wurde die Erweiterung des Natur- wiſſens in erſter Linie benützt, eine von Metaphyſik getragene encyklopädiſche Einheit des Wiſſens herzuſtellen. Dieſer Richtung des Geiſtes entſprachen die Schrift über die Natur der Dinge des Thomas von Cantiprato, der Naturſpiegel des Vincenz von Beauvais, das Buch der Natur von Konrad von Megenberg, das Weltbild von Pierre d’Ailly, und die Geſammtthätigkeit des Albertus Magnus war von ihr beſtimmt. Es kann noch nicht genügend beurtheilt werden, was von den Einzelergebniſſen, welche uns zuerſt bei Albertus begegnen, einem ſelbſtändigen Natur- ſtudium entſprungen war; jedoch kann Förderung der beſchrei- benden Naturwiſſenſchaft in eigener Beobachtung und Unterſuchung ihm nicht abgeſprochen werden. Alsdann trat in Roger Ba- con das Bewußtſein von der Bedeutung der Mathematik als des „Alphabets der Philoſophie“ und der experimentalen Wiſſenſchaft als der „Herrin der ſpekulativen Wiſſenſchaften“ hervor. Er ahnte die Macht einer auf Erfahrung gegründeten Erkenntniß der wirken- den Urſachen im Gegenſatz zu ſyllogiſtiſcher Scheinwiſſenſchaft, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0403" n="380"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.</fw><lb/> für eine ſelbſtändige Fortarbeit der abendländiſchen Chriſten in<lb/> den Naturwiſſenſchaften gegeben. Langſam, breit und tief ent-<lb/> wickelte ſich dieſe Arbeit. Die äußeren Bedingungen, unter<lb/> welchen die Wiſſenſchaften in den Klöſtern und an von der<lb/> Kirche geleiteten Anſtalten ſich befanden, unterſtützten die Ueber-<lb/> macht des theologiſch-metaphyſiſchen Intereſſes, und die Beſchäf-<lb/> tigung des Hofes Friedrich’s des Zweiten mit den <choice><sic>Naturwiſſen-<lb/> ſchaſten</sic><corr>Naturwiſſen-<lb/> ſchaften</corr></choice>, wie ſie durch das Vorbild der Kalifen hervorgerufen<lb/> war, fand keine Nachfolge. 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Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
für eine ſelbſtändige Fortarbeit der abendländiſchen Chriſten in
den Naturwiſſenſchaften gegeben. Langſam, breit und tief ent-
wickelte ſich dieſe Arbeit. Die äußeren Bedingungen, unter
welchen die Wiſſenſchaften in den Klöſtern und an von der
Kirche geleiteten Anſtalten ſich befanden, unterſtützten die Ueber-
macht des theologiſch-metaphyſiſchen Intereſſes, und die Beſchäf-
tigung des Hofes Friedrich’s des Zweiten mit den Naturwiſſen-
ſchaften, wie ſie durch das Vorbild der Kalifen hervorgerufen
war, fand keine Nachfolge. Die politiſche Verfaſſung Europas
gab den Problemen der Geſchichte und des Staates ſowie den
Schriften hierüber ein Gewicht, welches ſie in den Despotenreichen
des Islam nicht beſaßen. Der Gang der öffentlichen Ange-
legenheiten im Abendlande war ſchon damals von Ideen mächtig
beeinflußt, und dieſe zogen das öffentliche Intereſſe beſonders
auf ſich. Die ſelbſtändige, ja geniale Fortarbeit des chriſtlichen
Abendlandes in dem Einzelwiſſen lag daher zunächſt während
des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts auf dem Gebiete
der Geiſteswiſſenſchaften. So wurde die Erweiterung des Natur-
wiſſens in erſter Linie benützt, eine von Metaphyſik getragene
encyklopädiſche Einheit des Wiſſens herzuſtellen. Dieſer Richtung
des Geiſtes entſprachen die Schrift über die Natur der Dinge
des Thomas von Cantiprato, der Naturſpiegel des Vincenz von
Beauvais, das Buch der Natur von Konrad von Megenberg,
das Weltbild von Pierre d’Ailly, und die Geſammtthätigkeit des
Albertus Magnus war von ihr beſtimmt. Es kann noch nicht
genügend beurtheilt werden, was von den Einzelergebniſſen, welche
uns zuerſt bei Albertus begegnen, einem ſelbſtändigen Natur-
ſtudium entſprungen war; jedoch kann Förderung der beſchrei-
benden Naturwiſſenſchaft in eigener Beobachtung und Unterſuchung
ihm nicht abgeſprochen werden. Alsdann trat in Roger Ba-
con das Bewußtſein von der Bedeutung der Mathematik als des
„Alphabets der Philoſophie“ und der experimentalen Wiſſenſchaft
als der „Herrin der ſpekulativen Wiſſenſchaften“ hervor. Er ahnte
die Macht einer auf Erfahrung gegründeten Erkenntniß der wirken-
den Urſachen im Gegenſatz zu ſyllogiſtiſcher Scheinwiſſenſchaft,
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