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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Bestimmung der Aufgabe derselben.
Punkte der Naturwissenschaft bestehen: nicht äußere Schranken, an
welche das Naturerkennen stößt, sondern dem Erfahren selber
immanente Bedingungen desselben. Das Vorhandensein dieser im-
manenten Schranken der Erkenntniß bildet nun durchaus kein
Hinderniß für die Funktion des Erkennens. Bezeichnet man
mit Begreifen eine völlige Durchsichtigkeit in der Auffassung eines
Zusammenhangs, so haben wir es hier mit Schranken zu thun,
an welche das Begreifen anstößt. Aber, gleichviel ob die Wissen-
schaft ihrer Rechnung, welche die Veränderungen in der Wirklich-
keit auf die Bewegungen von Atomen zurückführt, Qualitäten
unterordne oder Bewußtseinsthatsachen: falls diese sich ihr nur
unterwerfen lassen, bildet die Thatsache der Unableitbarkeit kein
Hinderniß ihrer Operationen; ich vermag so wenig einen Ueber-
gang von der bloßen mathematischen Bestimmtheit oder der Be-
wegungsgröße zu einer Farbe oder einem Ton als zu einem Be-
wußtseinsvorgang zu finden; das blaue Licht wird von mir durch
die entsprechende Schwingungszahl so wenig erklärt, als das ver-
neinende Urtheil durch einen Vorgang im Gehirn. Indem die
Physik es der Physiologie überläßt, die Sinnesqualität blau zu
erklären, diese aber, welche in der Bewegung materieller Theile
eben auch kein Mittel besitzt, das Blau hervorzuzaubern, es der
Psychologie übergiebt, bleibt es schließlich, wie in einem Vexirspiel,
bei der Psychologie sitzen. An sich aber ist die Hypothese, welche
Qualitäten in dem Vorgang der Empfindung entstehen läßt, zu-
nächst nur ein Hilfsmittel für die Rechnung, welche die Verände-
rungen in der Wirklichkeit, wie sie in meiner Erfahrung gegeben
sind, auf eine gewisse Classe von Veränderungen innerhalb der-
selben, welche einen Theilinhalt meiner Erfahrung bildet, radicirt,
um sie für den Zweck der Erkenntniß gewissermaßen auf Eine
Fläche zu bringen. Wäre es möglich, bestimmt definirten That-
sachen, welche in dem Zusammenhang der mechanischen Naturbe-
trachtung eine feste Stelle einnehmen, constant und bestimmt definirte
Bewußtseinsthatsachen zu substituiren und nunmehr gemäß dem
System von Gleichförmigkeiten, in welchem die ersteren Thatsachen
sich befinden, das Eintreten der Bewußtseinsvorgänge ganz im

Beſtimmung der Aufgabe derſelben.
Punkte der Naturwiſſenſchaft beſtehen: nicht äußere Schranken, an
welche das Naturerkennen ſtößt, ſondern dem Erfahren ſelber
immanente Bedingungen deſſelben. Das Vorhandenſein dieſer im-
manenten Schranken der Erkenntniß bildet nun durchaus kein
Hinderniß für die Funktion des Erkennens. Bezeichnet man
mit Begreifen eine völlige Durchſichtigkeit in der Auffaſſung eines
Zuſammenhangs, ſo haben wir es hier mit Schranken zu thun,
an welche das Begreifen anſtößt. Aber, gleichviel ob die Wiſſen-
ſchaft ihrer Rechnung, welche die Veränderungen in der Wirklich-
keit auf die Bewegungen von Atomen zurückführt, Qualitäten
unterordne oder Bewußtſeinsthatſachen: falls dieſe ſich ihr nur
unterwerfen laſſen, bildet die Thatſache der Unableitbarkeit kein
Hinderniß ihrer Operationen; ich vermag ſo wenig einen Ueber-
gang von der bloßen mathematiſchen Beſtimmtheit oder der Be-
wegungsgröße zu einer Farbe oder einem Ton als zu einem Be-
wußtſeinsvorgang zu finden; das blaue Licht wird von mir durch
die entſprechende Schwingungszahl ſo wenig erklärt, als das ver-
neinende Urtheil durch einen Vorgang im Gehirn. Indem die
Phyſik es der Phyſiologie überläßt, die Sinnesqualität blau zu
erklären, dieſe aber, welche in der Bewegung materieller Theile
eben auch kein Mittel beſitzt, das Blau hervorzuzaubern, es der
Pſychologie übergiebt, bleibt es ſchließlich, wie in einem Vexirſpiel,
bei der Pſychologie ſitzen. An ſich aber iſt die Hypotheſe, welche
Qualitäten in dem Vorgang der Empfindung entſtehen läßt, zu-
nächſt nur ein Hilfsmittel für die Rechnung, welche die Verände-
rungen in der Wirklichkeit, wie ſie in meiner Erfahrung gegeben
ſind, auf eine gewiſſe Claſſe von Veränderungen innerhalb der-
ſelben, welche einen Theilinhalt meiner Erfahrung bildet, radicirt,
um ſie für den Zweck der Erkenntniß gewiſſermaßen auf Eine
Fläche zu bringen. Wäre es möglich, beſtimmt definirten That-
ſachen, welche in dem Zuſammenhang der mechaniſchen Naturbe-
trachtung eine feſte Stelle einnehmen, conſtant und beſtimmt definirte
Bewußtſeinsthatſachen zu ſubſtituiren und nunmehr gemäß dem
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[13/0036] Beſtimmung der Aufgabe derſelben. Punkte der Naturwiſſenſchaft beſtehen: nicht äußere Schranken, an welche das Naturerkennen ſtößt, ſondern dem Erfahren ſelber immanente Bedingungen deſſelben. Das Vorhandenſein dieſer im- manenten Schranken der Erkenntniß bildet nun durchaus kein Hinderniß für die Funktion des Erkennens. Bezeichnet man mit Begreifen eine völlige Durchſichtigkeit in der Auffaſſung eines Zuſammenhangs, ſo haben wir es hier mit Schranken zu thun, an welche das Begreifen anſtößt. Aber, gleichviel ob die Wiſſen- ſchaft ihrer Rechnung, welche die Veränderungen in der Wirklich- keit auf die Bewegungen von Atomen zurückführt, Qualitäten unterordne oder Bewußtſeinsthatſachen: falls dieſe ſich ihr nur unterwerfen laſſen, bildet die Thatſache der Unableitbarkeit kein Hinderniß ihrer Operationen; ich vermag ſo wenig einen Ueber- gang von der bloßen mathematiſchen Beſtimmtheit oder der Be- wegungsgröße zu einer Farbe oder einem Ton als zu einem Be- wußtſeinsvorgang zu finden; das blaue Licht wird von mir durch die entſprechende Schwingungszahl ſo wenig erklärt, als das ver- neinende Urtheil durch einen Vorgang im Gehirn. Indem die Phyſik es der Phyſiologie überläßt, die Sinnesqualität blau zu erklären, dieſe aber, welche in der Bewegung materieller Theile eben auch kein Mittel beſitzt, das Blau hervorzuzaubern, es der Pſychologie übergiebt, bleibt es ſchließlich, wie in einem Vexirſpiel, bei der Pſychologie ſitzen. An ſich aber iſt die Hypotheſe, welche Qualitäten in dem Vorgang der Empfindung entſtehen läßt, zu- nächſt nur ein Hilfsmittel für die Rechnung, welche die Verände- rungen in der Wirklichkeit, wie ſie in meiner Erfahrung gegeben ſind, auf eine gewiſſe Claſſe von Veränderungen innerhalb der- ſelben, welche einen Theilinhalt meiner Erfahrung bildet, radicirt, um ſie für den Zweck der Erkenntniß gewiſſermaßen auf Eine Fläche zu bringen. Wäre es möglich, beſtimmt definirten That- ſachen, welche in dem Zuſammenhang der mechaniſchen Naturbe- trachtung eine feſte Stelle einnehmen, conſtant und beſtimmt definirte Bewußtſeinsthatſachen zu ſubſtituiren und nunmehr gemäß dem Syſtem von Gleichförmigkeiten, in welchem die erſteren Thatſachen ſich befinden, das Eintreten der Bewußtſeinsvorgänge ganz im

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/36>, abgerufen am 29.03.2024.