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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Einklang mit der Erfahrung zu bestimmen: alsdann wären diese
Bewußtseinsthatsachen so gut dem Zusammenhang des Natur-
erkennens eingeordnet, als es irgend Ton oder Farbe sind.

Gerade hier macht sich aber die Unvergleichbarkeit ma-
terieller und geistiger Vorgänge in einem ganz anderen Verstande
geltend und zieht dem Naturerkennen Grenzen von einem durchaus
anderen Charakter. Die Unmöglichkeit der Ableitung von geistigen
Thatsachen aus denen der mechanischen Naturordnung, welche in
der Verschiedenheit ihrer Provenienz gegründet ist, hindert nicht
die Einordnung der ersteren in das System der letzteren. Erst
wenn die Beziehungen zwischen den Thatsachen der geistigen Welt
sich als in der Art unvergleichbar mit den Gleichförmigkeiten des
Naturlaufs zeigen, daß eine Unterordnung der geistigen That-
sachen unter die, welche die mechanische Naturerkenntniß festgestellt
hat, ausgeschlossen wird: dann erst sind nicht immanente Schranken
des erfahrenden Erkennens aufgezeigt, sondern Grenzen, an denen
Naturerkenntniß endigt und eine selbständige, aus ihrem eigenen
Mittelpunkte sich gestaltende Geisteswissenschaft beginnt. Das
Grundproblem liegt sonach in der Feststellung der bestimmten Art
von Unvergleichbarkeit zwischen den Beziehungen geistiger That-
sachen und den Gleichförmigkeiten materieller Vorgänge, welche eine
Einordnung der ersteren, eine Auffassung von ihnen als von Eigen-
schaften oder Seiten der Materie ausschließt und welche sonach
ganz anderer Art sein muß als die Verschiedenheit, die zwischen
den einzelnen Kreisen von Gesetzen der Materie besteht, wie sie
Mathematik, Physik, Chemie und Physiologie in einem sich immer
folgerichtiger entwickelnden Verhältniß von Unterordnung dar-
legen. Eine Ausschließung der Thatsachen des Geistes aus dem
Zusammenhang der Materie, ihrer Eigenschaften und Gesetze wird
immer einen Widerspruch voraussetzen, der zwischen den Be-
ziehungen der Thatsachen auf dem einen und denen der Thatsachen
auf dem andern Gebiet bei dem Versuch einer solchen Unterord-
nung eintritt. Und dies ist in der That die Meinung, wenn
die Unvergleichbarkeit des geistigen Lebens an den Thatsachen
des Selbstbewußtseins und der mit ihm zusammenhängenden Ein-

Erſtes einleitendes Buch.
Einklang mit der Erfahrung zu beſtimmen: alsdann wären dieſe
Bewußtſeinsthatſachen ſo gut dem Zuſammenhang des Natur-
erkennens eingeordnet, als es irgend Ton oder Farbe ſind.

Gerade hier macht ſich aber die Unvergleichbarkeit ma-
terieller und geiſtiger Vorgänge in einem ganz anderen Verſtande
geltend und zieht dem Naturerkennen Grenzen von einem durchaus
anderen Charakter. Die Unmöglichkeit der Ableitung von geiſtigen
Thatſachen aus denen der mechaniſchen Naturordnung, welche in
der Verſchiedenheit ihrer Provenienz gegründet iſt, hindert nicht
die Einordnung der erſteren in das Syſtem der letzteren. Erſt
wenn die Beziehungen zwiſchen den Thatſachen der geiſtigen Welt
ſich als in der Art unvergleichbar mit den Gleichförmigkeiten des
Naturlaufs zeigen, daß eine Unterordnung der geiſtigen That-
ſachen unter die, welche die mechaniſche Naturerkenntniß feſtgeſtellt
hat, ausgeſchloſſen wird: dann erſt ſind nicht immanente Schranken
des erfahrenden Erkennens aufgezeigt, ſondern Grenzen, an denen
Naturerkenntniß endigt und eine ſelbſtändige, aus ihrem eigenen
Mittelpunkte ſich geſtaltende Geiſteswiſſenſchaft beginnt. Das
Grundproblem liegt ſonach in der Feſtſtellung der beſtimmten Art
von Unvergleichbarkeit zwiſchen den Beziehungen geiſtiger That-
ſachen und den Gleichförmigkeiten materieller Vorgänge, welche eine
Einordnung der erſteren, eine Auffaſſung von ihnen als von Eigen-
ſchaften oder Seiten der Materie ausſchließt und welche ſonach
ganz anderer Art ſein muß als die Verſchiedenheit, die zwiſchen
den einzelnen Kreiſen von Geſetzen der Materie beſteht, wie ſie
Mathematik, Phyſik, Chemie und Phyſiologie in einem ſich immer
folgerichtiger entwickelnden Verhältniß von Unterordnung dar-
legen. Eine Ausſchließung der Thatſachen des Geiſtes aus dem
Zuſammenhang der Materie, ihrer Eigenſchaften und Geſetze wird
immer einen Widerſpruch vorausſetzen, der zwiſchen den Be-
ziehungen der Thatſachen auf dem einen und denen der Thatſachen
auf dem andern Gebiet bei dem Verſuch einer ſolchen Unterord-
nung eintritt. Und dies iſt in der That die Meinung, wenn
die Unvergleichbarkeit des geiſtigen Lebens an den Thatſachen
des Selbſtbewußtſeins und der mit ihm zuſammenhängenden Ein-

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[14/0037] Erſtes einleitendes Buch. Einklang mit der Erfahrung zu beſtimmen: alsdann wären dieſe Bewußtſeinsthatſachen ſo gut dem Zuſammenhang des Natur- erkennens eingeordnet, als es irgend Ton oder Farbe ſind. Gerade hier macht ſich aber die Unvergleichbarkeit ma- terieller und geiſtiger Vorgänge in einem ganz anderen Verſtande geltend und zieht dem Naturerkennen Grenzen von einem durchaus anderen Charakter. Die Unmöglichkeit der Ableitung von geiſtigen Thatſachen aus denen der mechaniſchen Naturordnung, welche in der Verſchiedenheit ihrer Provenienz gegründet iſt, hindert nicht die Einordnung der erſteren in das Syſtem der letzteren. Erſt wenn die Beziehungen zwiſchen den Thatſachen der geiſtigen Welt ſich als in der Art unvergleichbar mit den Gleichförmigkeiten des Naturlaufs zeigen, daß eine Unterordnung der geiſtigen That- ſachen unter die, welche die mechaniſche Naturerkenntniß feſtgeſtellt hat, ausgeſchloſſen wird: dann erſt ſind nicht immanente Schranken des erfahrenden Erkennens aufgezeigt, ſondern Grenzen, an denen Naturerkenntniß endigt und eine ſelbſtändige, aus ihrem eigenen Mittelpunkte ſich geſtaltende Geiſteswiſſenſchaft beginnt. Das Grundproblem liegt ſonach in der Feſtſtellung der beſtimmten Art von Unvergleichbarkeit zwiſchen den Beziehungen geiſtiger That- ſachen und den Gleichförmigkeiten materieller Vorgänge, welche eine Einordnung der erſteren, eine Auffaſſung von ihnen als von Eigen- ſchaften oder Seiten der Materie ausſchließt und welche ſonach ganz anderer Art ſein muß als die Verſchiedenheit, die zwiſchen den einzelnen Kreiſen von Geſetzen der Materie beſteht, wie ſie Mathematik, Phyſik, Chemie und Phyſiologie in einem ſich immer folgerichtiger entwickelnden Verhältniß von Unterordnung dar- legen. Eine Ausſchließung der Thatſachen des Geiſtes aus dem Zuſammenhang der Materie, ihrer Eigenſchaften und Geſetze wird immer einen Widerſpruch vorausſetzen, der zwiſchen den Be- ziehungen der Thatſachen auf dem einen und denen der Thatſachen auf dem andern Gebiet bei dem Verſuch einer ſolchen Unterord- nung eintritt. Und dies iſt in der That die Meinung, wenn die Unvergleichbarkeit des geiſtigen Lebens an den Thatſachen des Selbſtbewußtſeins und der mit ihm zuſammenhängenden Ein-

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/37>, abgerufen am 23.04.2024.