Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Er erweist die Unmöglichkeit einer metaphysischen Erkenntniß.
folgt. Bei trockner Zunge in der Fieberhitze haben wir andere Ge-
schmacksempfindungen als in normalem Zustande, und so kann an-
genommen werden, daß auch die entsprechenden Verschiedenheiten
in der thierischen Organisation von einer Verschiedenheit der Ge-
schmacksempfindungen begleitet sind. Das Ergebniß wird in folgen-
dem schönen Bilde zusammengefaßt: wie der Druck derselben Hand
auf die Leier bald einen tiefen Ton bald einen hohen bewirkt, so
bringt das Spiel derselben wirkenden Objekte in Folge der in dem
Bau lebender Wesen liegenden feinen und mannigfachen Abstim-
mung der Empfindungen ganz verschiedene Phänomene hervor.
-- Dieselbe Verschiedenheit kann alsdann innerhalb der Men-
schenwelt
festgestellt werden; die phantastischen Gesichtserschei-
nungen sowie die großen Differenzen in der Reaktion auf Ein-
drücke durch Lust und Unlust sind hiefür Belege. -- Nun sind
aber weiter die Objekte uns in fünf Arten von Sinnes-
wahrnehmungen
gegeben; so ist derselbe Apfel als glatt,
wohlriechend, süß, gelb für uns da. Wer kann nun sagen, ob
er nur Eine Beschaffenheit hat, nach der verschiedenen Einrich-
tung der Sinnesorgane aber verschieden erscheint? Das obige
Bild von dem Drucke derselben Hand auf die Leier kann diese
Möglichkeit veranschaulichen. Und kann nicht eben so gut der
Apfel die fünf verschiedenen, ja noch mehrere uns unbekannte
Eigenschaften haben? Ein zugleich Blind- und Taubgeborener
nimmt an, daß nur drei Eigenschaftsklassen der Objekte vorhanden
sind. Dazu aber sind wir nicht berechtigt, solchen Bedenken gegen-
über die Natur zu Hilfe zu rufen, welche unsere Sinnesorgane
ihren Gegenständen korrespondirend mache. -- Ja selbst innerhalb
des einzelnen Sinnesorgans sind die Eindrücke von dem
Wechsel seiner Zustände abhängig. Dasselbe Wasser scheint,
auf entzündete Stellen gegossen, siedend zu sein, welches von dem
normalen Temperaturgefühl der Haut als lau empfunden wird. --
So nahe rückt die skeptische Lehre an die Theorie der Sinnes-
energien, wie Johannes Müller sie begründet hat, heran 1).


1) Die vier ersten Tropen des Sextus, hypotyp. I, 40--117 sind in
diesem Absatz zusammengefaßt.

Er erweiſt die Unmöglichkeit einer metaphyſiſchen Erkenntniß.
folgt. Bei trockner Zunge in der Fieberhitze haben wir andere Ge-
ſchmacksempfindungen als in normalem Zuſtande, und ſo kann an-
genommen werden, daß auch die entſprechenden Verſchiedenheiten
in der thieriſchen Organiſation von einer Verſchiedenheit der Ge-
ſchmacksempfindungen begleitet ſind. Das Ergebniß wird in folgen-
dem ſchönen Bilde zuſammengefaßt: wie der Druck derſelben Hand
auf die Leier bald einen tiefen Ton bald einen hohen bewirkt, ſo
bringt das Spiel derſelben wirkenden Objekte in Folge der in dem
Bau lebender Weſen liegenden feinen und mannigfachen Abſtim-
mung der Empfindungen ganz verſchiedene Phänomene hervor.
— Dieſelbe Verſchiedenheit kann alsdann innerhalb der Men-
ſchenwelt
feſtgeſtellt werden; die phantaſtiſchen Geſichtserſchei-
nungen ſowie die großen Differenzen in der Reaktion auf Ein-
drücke durch Luſt und Unluſt ſind hiefür Belege. — Nun ſind
aber weiter die Objekte uns in fünf Arten von Sinnes-
wahrnehmungen
gegeben; ſo iſt derſelbe Apfel als glatt,
wohlriechend, ſüß, gelb für uns da. Wer kann nun ſagen, ob
er nur Eine Beſchaffenheit hat, nach der verſchiedenen Einrich-
tung der Sinnesorgane aber verſchieden erſcheint? Das obige
Bild von dem Drucke derſelben Hand auf die Leier kann dieſe
Möglichkeit veranſchaulichen. Und kann nicht eben ſo gut der
Apfel die fünf verſchiedenen, ja noch mehrere uns unbekannte
Eigenſchaften haben? Ein zugleich Blind- und Taubgeborener
nimmt an, daß nur drei Eigenſchaftsklaſſen der Objekte vorhanden
ſind. Dazu aber ſind wir nicht berechtigt, ſolchen Bedenken gegen-
über die Natur zu Hilfe zu rufen, welche unſere Sinnesorgane
ihren Gegenſtänden korreſpondirend mache. — Ja ſelbſt innerhalb
des einzelnen Sinnesorgans ſind die Eindrücke von dem
Wechſel ſeiner Zuſtände abhängig. Daſſelbe Waſſer ſcheint,
auf entzündete Stellen gegoſſen, ſiedend zu ſein, welches von dem
normalen Temperaturgefühl der Haut als lau empfunden wird. —
So nahe rückt die ſkeptiſche Lehre an die Theorie der Sinnes-
energien, wie Johannes Müller ſie begründet hat, heran 1).


1) Die vier erſten Tropen des Sextus, hypotyp. I, 40—117 ſind in
dieſem Abſatz zuſammengefaßt.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0324" n="301"/><fw place="top" type="header">Er erwei&#x017F;t die Unmöglichkeit einer metaphy&#x017F;i&#x017F;chen Erkenntniß.</fw><lb/>
folgt. Bei trockner Zunge in der Fieberhitze haben wir andere Ge-<lb/>
&#x017F;chmacksempfindungen als in normalem Zu&#x017F;tande, und &#x017F;o kann an-<lb/>
genommen werden, daß auch die ent&#x017F;prechenden Ver&#x017F;chiedenheiten<lb/>
in der thieri&#x017F;chen Organi&#x017F;ation von einer Ver&#x017F;chiedenheit der Ge-<lb/>
&#x017F;chmacksempfindungen begleitet &#x017F;ind. Das Ergebniß wird in folgen-<lb/>
dem &#x017F;chönen Bilde zu&#x017F;ammengefaßt: wie der Druck der&#x017F;elben Hand<lb/>
auf die Leier bald einen tiefen Ton bald einen hohen bewirkt, &#x017F;o<lb/>
bringt das Spiel der&#x017F;elben wirkenden Objekte in Folge der in dem<lb/>
Bau lebender We&#x017F;en liegenden feinen und mannigfachen Ab&#x017F;tim-<lb/>
mung der Empfindungen ganz ver&#x017F;chiedene Phänomene hervor.<lb/>
&#x2014; Die&#x017F;elbe Ver&#x017F;chiedenheit kann alsdann innerhalb der <hi rendition="#g">Men-<lb/>
&#x017F;chenwelt</hi> fe&#x017F;tge&#x017F;tellt werden; die phanta&#x017F;ti&#x017F;chen Ge&#x017F;ichtser&#x017F;chei-<lb/>
nungen &#x017F;owie die großen Differenzen in der Reaktion auf Ein-<lb/>
drücke durch Lu&#x017F;t und Unlu&#x017F;t &#x017F;ind hiefür Belege. &#x2014; Nun &#x017F;ind<lb/>
aber weiter die Objekte uns in <hi rendition="#g">fünf Arten von Sinnes-<lb/>
wahrnehmungen</hi> gegeben; &#x017F;o i&#x017F;t der&#x017F;elbe Apfel als glatt,<lb/>
wohlriechend, &#x017F;üß, gelb für uns da. Wer kann nun &#x017F;agen, ob<lb/>
er nur Eine Be&#x017F;chaffenheit hat, nach der ver&#x017F;chiedenen Einrich-<lb/>
tung der Sinnesorgane aber ver&#x017F;chieden er&#x017F;cheint? Das obige<lb/>
Bild von dem Drucke der&#x017F;elben Hand auf die Leier kann die&#x017F;e<lb/>
Möglichkeit veran&#x017F;chaulichen. Und kann nicht eben &#x017F;o gut der<lb/>
Apfel die fünf ver&#x017F;chiedenen, ja noch mehrere uns unbekannte<lb/>
Eigen&#x017F;chaften haben? Ein zugleich Blind- und Taubgeborener<lb/>
nimmt an, daß nur drei Eigen&#x017F;chaftskla&#x017F;&#x017F;en der Objekte vorhanden<lb/>
&#x017F;ind. Dazu aber &#x017F;ind wir nicht berechtigt, &#x017F;olchen Bedenken gegen-<lb/>
über die Natur zu Hilfe zu rufen, welche un&#x017F;ere Sinnesorgane<lb/>
ihren Gegen&#x017F;tänden korre&#x017F;pondirend mache. &#x2014; Ja &#x017F;elb&#x017F;t innerhalb<lb/>
des <hi rendition="#g">einzelnen Sinnesorgans</hi> &#x017F;ind die Eindrücke von dem<lb/><hi rendition="#g">Wech&#x017F;el &#x017F;einer Zu&#x017F;tände</hi> abhängig. Da&#x017F;&#x017F;elbe Wa&#x017F;&#x017F;er &#x017F;cheint,<lb/>
auf entzündete Stellen gego&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;iedend zu &#x017F;ein, welches von dem<lb/>
normalen Temperaturgefühl der Haut als lau empfunden wird. &#x2014;<lb/>
So nahe rückt die &#x017F;kepti&#x017F;che Lehre an die Theorie der Sinnes-<lb/>
energien, wie Johannes Müller &#x017F;ie begründet hat, heran <note place="foot" n="1)">Die vier er&#x017F;ten Tropen des Sextus, <hi rendition="#aq">hypotyp. I,</hi> 40&#x2014;117 &#x017F;ind in<lb/>
die&#x017F;em Ab&#x017F;atz zu&#x017F;ammengefaßt.</note>.</p><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[301/0324] Er erweiſt die Unmöglichkeit einer metaphyſiſchen Erkenntniß. folgt. Bei trockner Zunge in der Fieberhitze haben wir andere Ge- ſchmacksempfindungen als in normalem Zuſtande, und ſo kann an- genommen werden, daß auch die entſprechenden Verſchiedenheiten in der thieriſchen Organiſation von einer Verſchiedenheit der Ge- ſchmacksempfindungen begleitet ſind. Das Ergebniß wird in folgen- dem ſchönen Bilde zuſammengefaßt: wie der Druck derſelben Hand auf die Leier bald einen tiefen Ton bald einen hohen bewirkt, ſo bringt das Spiel derſelben wirkenden Objekte in Folge der in dem Bau lebender Weſen liegenden feinen und mannigfachen Abſtim- mung der Empfindungen ganz verſchiedene Phänomene hervor. — Dieſelbe Verſchiedenheit kann alsdann innerhalb der Men- ſchenwelt feſtgeſtellt werden; die phantaſtiſchen Geſichtserſchei- nungen ſowie die großen Differenzen in der Reaktion auf Ein- drücke durch Luſt und Unluſt ſind hiefür Belege. — Nun ſind aber weiter die Objekte uns in fünf Arten von Sinnes- wahrnehmungen gegeben; ſo iſt derſelbe Apfel als glatt, wohlriechend, ſüß, gelb für uns da. Wer kann nun ſagen, ob er nur Eine Beſchaffenheit hat, nach der verſchiedenen Einrich- tung der Sinnesorgane aber verſchieden erſcheint? Das obige Bild von dem Drucke derſelben Hand auf die Leier kann dieſe Möglichkeit veranſchaulichen. Und kann nicht eben ſo gut der Apfel die fünf verſchiedenen, ja noch mehrere uns unbekannte Eigenſchaften haben? Ein zugleich Blind- und Taubgeborener nimmt an, daß nur drei Eigenſchaftsklaſſen der Objekte vorhanden ſind. Dazu aber ſind wir nicht berechtigt, ſolchen Bedenken gegen- über die Natur zu Hilfe zu rufen, welche unſere Sinnesorgane ihren Gegenſtänden korreſpondirend mache. — Ja ſelbſt innerhalb des einzelnen Sinnesorgans ſind die Eindrücke von dem Wechſel ſeiner Zuſtände abhängig. Daſſelbe Waſſer ſcheint, auf entzündete Stellen gegoſſen, ſiedend zu ſein, welches von dem normalen Temperaturgefühl der Haut als lau empfunden wird. — So nahe rückt die ſkeptiſche Lehre an die Theorie der Sinnes- energien, wie Johannes Müller ſie begründet hat, heran 1). 1) Die vier erſten Tropen des Sextus, hypotyp. I, 40—117 ſind in dieſem Abſatz zuſammengefaßt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/324
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 301. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/324>, abgerufen am 17.05.2024.