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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Zweiter Abschnitt.
ist. Der Relativismus der modernen Philosophen ist von
dem des Sextus Empiricus in keinem Punkte unterschieden, soweit er
sich auf den Nachweis der Unmöglichkeit aller Metaphysik bezieht.
Er geht nur über ihn hinaus in Bezug auf die Herstellung einer
Theorie vom Zusammenhang der Phänomene in den Schranken der
Einsicht von ihrer Relativität. Obwol die Wahrscheinlichkeitslehre
des berühmtesten aller Skeptiker, des Carneades, doch auch schon
entwickelt, daß nach Verzicht auf die Wahrheit die Herstellung eines
widerspruchslosen Zusammenhangs der Phänomene zum Zwecke der
Feststellung des Werthes eines einzelnen Eindrucks möglich bleibe.

Der Relativismus der Skeptiker erweist die Unmöglich-
keit
, den objektiven Zusammenhang der Außenwelt zu erkennen,
durch die Kritik der Wahrnehmung sowie durch die des
Denkens. So bereitet er die große Beweisführung vor, welche
das siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert gegeben hat, indem
die empiristische Schule seit Locke die Wahrnehmung zergliederte, um
in ihr die Möglichkeit einer objektiven Erkenntniß zu finden, zugleich
aber die rationale Schule zu demselben Zwecke das Denken zer-
gliederte: wobei sich dann unwidersprechlich herausstellte, daß weder
hier noch dort eine Quelle metaphysischer Erkenntniß des objektiven
Zusammenhangs der Erscheinungen zu entdecken sei.

Die erste Frage ist sonach: Welcher ist der Erkenntnißwerth
des in der sinnlichen Wahrnehmung Gegebenen? Die
Erscheinungsbilder sind zunächst bedingt durch die Sinnes-
organe
. Die protagoreische Begründung des Relativismus durch
Beobachtungen über die Sinne ist nunmehr vermittelst eines vor-
geschrittenen biologischen Studiums vertieft. -- Die Sehwerkzeuge
der lebenden Wesen sind sehr verschieden und zwingen uns,
auf eine Verschiedenheit der durch sie bedingten Gesichtsbilder zu
schließen. Hier wendet diese Schule die Methode an, subjektive
Sinneserscheinungen zu beobachten und die Bedingungen, unter
denen sie auftreten, als Analogien zu benutzen, um sich über die
Abweichungen der Gesichtsbilder der Thiere von den normalen
menschlichen Gesichtseindrücken eine Vorstellung zu bilden. Dasselbe
Verfahren wird auch durch die anderen Sinnesorgane hindurch ver-

Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
iſt. Der Relativismus der modernen Philoſophen iſt von
dem des Sextus Empiricus in keinem Punkte unterſchieden, ſoweit er
ſich auf den Nachweis der Unmöglichkeit aller Metaphyſik bezieht.
Er geht nur über ihn hinaus in Bezug auf die Herſtellung einer
Theorie vom Zuſammenhang der Phänomene in den Schranken der
Einſicht von ihrer Relativität. Obwol die Wahrſcheinlichkeitslehre
des berühmteſten aller Skeptiker, des Carneades, doch auch ſchon
entwickelt, daß nach Verzicht auf die Wahrheit die Herſtellung eines
widerſpruchsloſen Zuſammenhangs der Phänomene zum Zwecke der
Feſtſtellung des Werthes eines einzelnen Eindrucks möglich bleibe.

Der Relativismus der Skeptiker erweiſt die Unmöglich-
keit
, den objektiven Zuſammenhang der Außenwelt zu erkennen,
durch die Kritik der Wahrnehmung ſowie durch die des
Denkens. So bereitet er die große Beweisführung vor, welche
das ſiebzehnte und achtzehnte Jahrhundert gegeben hat, indem
die empiriſtiſche Schule ſeit Locke die Wahrnehmung zergliederte, um
in ihr die Möglichkeit einer objektiven Erkenntniß zu finden, zugleich
aber die rationale Schule zu demſelben Zwecke das Denken zer-
gliederte: wobei ſich dann unwiderſprechlich herausſtellte, daß weder
hier noch dort eine Quelle metaphyſiſcher Erkenntniß des objektiven
Zuſammenhangs der Erſcheinungen zu entdecken ſei.

Die erſte Frage iſt ſonach: Welcher iſt der Erkenntnißwerth
des in der ſinnlichen Wahrnehmung Gegebenen? Die
Erſcheinungsbilder ſind zunächſt bedingt durch die Sinnes-
organe
. Die protagoreiſche Begründung des Relativismus durch
Beobachtungen über die Sinne iſt nunmehr vermittelſt eines vor-
geſchrittenen biologiſchen Studiums vertieft. — Die Sehwerkzeuge
der lebenden Weſen ſind ſehr verſchieden und zwingen uns,
auf eine Verſchiedenheit der durch ſie bedingten Geſichtsbilder zu
ſchließen. Hier wendet dieſe Schule die Methode an, ſubjektive
Sinneserſcheinungen zu beobachten und die Bedingungen, unter
denen ſie auftreten, als Analogien zu benutzen, um ſich über die
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menſchlichen Geſichtseindrücken eine Vorſtellung zu bilden. Daſſelbe
Verfahren wird auch durch die anderen Sinnesorgane hindurch ver-

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[300/0323] Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. iſt. Der Relativismus der modernen Philoſophen iſt von dem des Sextus Empiricus in keinem Punkte unterſchieden, ſoweit er ſich auf den Nachweis der Unmöglichkeit aller Metaphyſik bezieht. Er geht nur über ihn hinaus in Bezug auf die Herſtellung einer Theorie vom Zuſammenhang der Phänomene in den Schranken der Einſicht von ihrer Relativität. Obwol die Wahrſcheinlichkeitslehre des berühmteſten aller Skeptiker, des Carneades, doch auch ſchon entwickelt, daß nach Verzicht auf die Wahrheit die Herſtellung eines widerſpruchsloſen Zuſammenhangs der Phänomene zum Zwecke der Feſtſtellung des Werthes eines einzelnen Eindrucks möglich bleibe. Der Relativismus der Skeptiker erweiſt die Unmöglich- keit, den objektiven Zuſammenhang der Außenwelt zu erkennen, durch die Kritik der Wahrnehmung ſowie durch die des Denkens. So bereitet er die große Beweisführung vor, welche das ſiebzehnte und achtzehnte Jahrhundert gegeben hat, indem die empiriſtiſche Schule ſeit Locke die Wahrnehmung zergliederte, um in ihr die Möglichkeit einer objektiven Erkenntniß zu finden, zugleich aber die rationale Schule zu demſelben Zwecke das Denken zer- gliederte: wobei ſich dann unwiderſprechlich herausſtellte, daß weder hier noch dort eine Quelle metaphyſiſcher Erkenntniß des objektiven Zuſammenhangs der Erſcheinungen zu entdecken ſei. Die erſte Frage iſt ſonach: Welcher iſt der Erkenntnißwerth des in der ſinnlichen Wahrnehmung Gegebenen? Die Erſcheinungsbilder ſind zunächſt bedingt durch die Sinnes- organe. Die protagoreiſche Begründung des Relativismus durch Beobachtungen über die Sinne iſt nunmehr vermittelſt eines vor- geſchrittenen biologiſchen Studiums vertieft. — Die Sehwerkzeuge der lebenden Weſen ſind ſehr verſchieden und zwingen uns, auf eine Verſchiedenheit der durch ſie bedingten Geſichtsbilder zu ſchließen. Hier wendet dieſe Schule die Methode an, ſubjektive Sinneserſcheinungen zu beobachten und die Bedingungen, unter denen ſie auftreten, als Analogien zu benutzen, um ſich über die Abweichungen der Geſichtsbilder der Thiere von den normalen menſchlichen Geſichtseindrücken eine Vorſtellung zu bilden. Daſſelbe Verfahren wird auch durch die anderen Sinnesorgane hindurch ver-

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 300. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/323>, abgerufen am 22.11.2024.