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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Die Geisteswissenschaften ein selbständiges Ganze.
angewandt worden ist; Gesellschaftswissenschaft (Sociologie), mora-
lische, geschichtliche, Cultur-Wissenschaften: alle diese Bezeich-
nungen leiden an demselben Fehler, zu eng zu sein in Bezug auf
den Gegenstand, den sie ausdrücken sollen. Und der hier gewählte
Name hat wenigstens den Vorzug, den centralen Thatsachenkreis
angemessen zu bezeichnen, von welchem aus in Wirklichkeit die
Einheit dieser Wissenschaften gesehen, ihr Umfang entworfen, ihre
Abgrenzung gegen die Naturwissenschaften, wenn auch noch so
unvollkommen, vollzogen worden ist.

Der Beweggrund nämlich, von welchem die Gewohnheit aus-
gegangen ist, diese Wissenschaften als eine Einheit von denen der
Natur abzugrenzen, reicht in die Tiefe und Totalität des mensch-
lichen Selbstbewußtseins. Unangerührt noch von Untersuchungen
über den Ursprung des Geistigen, findet der Mensch in diesem
Selbstbewußtsein eine Souveränität des Willens, eine Verant-
wortlichkeit der Handlungen, ein Vermögen, Alles dem Gedanken
zu unterwerfen und Allem innerhalb der Burgfreiheit seiner
Person zu widerstehen, durch welche er sich von der ganzen Natur
absondert. Er findet sich in dieser Natur in der That, einen Aus-
druck Spinoza's zu gebrauchen, als imperium in imperio 1). Und
da für ihn nur das besteht, was Thatsache seines Bewußtseins
ist, so liegt in dieser selbständig in ihm wirkenden geistigen
Welt jeder Werth, jeder Zweck des Lebens, in der Herstellung
geistiger Thatbestände jedes Ziel seiner Handlungen. So sondert
er von dem Reich der Natur ein Reich der Geschichte, in welchem,
mitten in dem Zusammenhang einer objektiven Nothwendigkeit,
welcher Natur ist, Freiheit an unzähligen Punkten dieses Ganzen
aufblitzt; hier bringen die Thaten des Willens, im Gegensatz
zu dem mechanischen Ablauf der Naturveränderungen, welcher im
Ansatz Alles was in ihm erfolgt schon enthält, durch ihren Kraft-

1) Sehr genial drückt Pascal dies Lebensgefühl aus: Pensees Art. I.
,Toutes ces miseres -- prouvent sa grandeur. Ce sont miseres de grand
seigneur, miseres d'un roi depossede. (3) Nous avons une si grande idee
de l'ame de l'homme, que nous ne pouvons souffrir d'en etre meprises,
et de n'etre pas dans l'estime d'une ame' (5) [Oeuvres Paris 1866 I,
248, 249).

Die Geiſteswiſſenſchaften ein ſelbſtändiges Ganze.
angewandt worden iſt; Geſellſchaftswiſſenſchaft (Sociologie), mora-
liſche, geſchichtliche, Cultur-Wiſſenſchaften: alle dieſe Bezeich-
nungen leiden an demſelben Fehler, zu eng zu ſein in Bezug auf
den Gegenſtand, den ſie ausdrücken ſollen. Und der hier gewählte
Name hat wenigſtens den Vorzug, den centralen Thatſachenkreis
angemeſſen zu bezeichnen, von welchem aus in Wirklichkeit die
Einheit dieſer Wiſſenſchaften geſehen, ihr Umfang entworfen, ihre
Abgrenzung gegen die Naturwiſſenſchaften, wenn auch noch ſo
unvollkommen, vollzogen worden iſt.

Der Beweggrund nämlich, von welchem die Gewohnheit aus-
gegangen iſt, dieſe Wiſſenſchaften als eine Einheit von denen der
Natur abzugrenzen, reicht in die Tiefe und Totalität des menſch-
lichen Selbſtbewußtſeins. Unangerührt noch von Unterſuchungen
über den Urſprung des Geiſtigen, findet der Menſch in dieſem
Selbſtbewußtſein eine Souveränität des Willens, eine Verant-
wortlichkeit der Handlungen, ein Vermögen, Alles dem Gedanken
zu unterwerfen und Allem innerhalb der Burgfreiheit ſeiner
Perſon zu widerſtehen, durch welche er ſich von der ganzen Natur
abſondert. Er findet ſich in dieſer Natur in der That, einen Aus-
druck Spinoza’s zu gebrauchen, als imperium in imperio 1). Und
da für ihn nur das beſteht, was Thatſache ſeines Bewußtſeins
iſt, ſo liegt in dieſer ſelbſtändig in ihm wirkenden geiſtigen
Welt jeder Werth, jeder Zweck des Lebens, in der Herſtellung
geiſtiger Thatbeſtände jedes Ziel ſeiner Handlungen. So ſondert
er von dem Reich der Natur ein Reich der Geſchichte, in welchem,
mitten in dem Zuſammenhang einer objektiven Nothwendigkeit,
welcher Natur iſt, Freiheit an unzähligen Punkten dieſes Ganzen
aufblitzt; hier bringen die Thaten des Willens, im Gegenſatz
zu dem mechaniſchen Ablauf der Naturveränderungen, welcher im
Anſatz Alles was in ihm erfolgt ſchon enthält, durch ihren Kraft-

1) Sehr genial drückt Pascal dies Lebensgefühl aus: Pensées Art. I.
‚Toutes ces misères — prouvent sa grandeur. Ce sont misères de grand
seigneur, misères d’un roi dépossédé. (3) Nous avons une si grande idée
de l’âme de l’homme, que nous ne pouvons souffrir d’en être méprisés,
et de n’être pas dans l’estime d’une âme‘ (5) [Oeuvres Paris 1866 I,
248, 249).
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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/30>, abgerufen am 23.11.2024.