Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.Die Geisteswissenschaften ein selbständiges Ganze. angewandt worden ist; Gesellschaftswissenschaft (Sociologie), mora-lische, geschichtliche, Cultur-Wissenschaften: alle diese Bezeich- nungen leiden an demselben Fehler, zu eng zu sein in Bezug auf den Gegenstand, den sie ausdrücken sollen. Und der hier gewählte Name hat wenigstens den Vorzug, den centralen Thatsachenkreis angemessen zu bezeichnen, von welchem aus in Wirklichkeit die Einheit dieser Wissenschaften gesehen, ihr Umfang entworfen, ihre Abgrenzung gegen die Naturwissenschaften, wenn auch noch so unvollkommen, vollzogen worden ist. Der Beweggrund nämlich, von welchem die Gewohnheit aus- 1) Sehr genial drückt Pascal dies Lebensgefühl aus: Pensees Art. I.
,Toutes ces miseres -- prouvent sa grandeur. Ce sont miseres de grand seigneur, miseres d'un roi depossede. (3) Nous avons une si grande idee de l'ame de l'homme, que nous ne pouvons souffrir d'en etre meprises, et de n'etre pas dans l'estime d'une ame' (5) [Oeuvres Paris 1866 I, 248, 249). Die Geiſteswiſſenſchaften ein ſelbſtändiges Ganze. angewandt worden iſt; Geſellſchaftswiſſenſchaft (Sociologie), mora-liſche, geſchichtliche, Cultur-Wiſſenſchaften: alle dieſe Bezeich- nungen leiden an demſelben Fehler, zu eng zu ſein in Bezug auf den Gegenſtand, den ſie ausdrücken ſollen. Und der hier gewählte Name hat wenigſtens den Vorzug, den centralen Thatſachenkreis angemeſſen zu bezeichnen, von welchem aus in Wirklichkeit die Einheit dieſer Wiſſenſchaften geſehen, ihr Umfang entworfen, ihre Abgrenzung gegen die Naturwiſſenſchaften, wenn auch noch ſo unvollkommen, vollzogen worden iſt. Der Beweggrund nämlich, von welchem die Gewohnheit aus- 1) Sehr genial drückt Pascal dies Lebensgefühl aus: Pensées Art. I.
‚Toutes ces misères — prouvent sa grandeur. Ce sont misères de grand seigneur, misères d’un roi dépossédé. (3) Nous avons une si grande idée de l’âme de l’homme, que nous ne pouvons souffrir d’en être méprisés, et de n’être pas dans l’estime d’une âme‘ (5) [Oeuvres Paris 1866 I, 248, 249). <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0030" n="7"/><fw place="top" type="header">Die Geiſteswiſſenſchaften ein ſelbſtändiges Ganze.</fw><lb/> angewandt worden iſt; Geſellſchaftswiſſenſchaft (Sociologie), mora-<lb/> liſche, geſchichtliche, Cultur-Wiſſenſchaften: alle dieſe Bezeich-<lb/> nungen leiden an demſelben Fehler, zu eng zu ſein in Bezug auf<lb/> den Gegenſtand, den ſie ausdrücken ſollen. Und der hier gewählte<lb/> Name hat wenigſtens den Vorzug, den centralen Thatſachenkreis<lb/> angemeſſen zu bezeichnen, von welchem aus in Wirklichkeit die<lb/> Einheit dieſer Wiſſenſchaften geſehen, ihr Umfang entworfen, ihre<lb/> Abgrenzung gegen die Naturwiſſenſchaften, wenn auch noch ſo<lb/> unvollkommen, vollzogen worden iſt.</p><lb/> <p>Der Beweggrund nämlich, von welchem die Gewohnheit aus-<lb/> gegangen iſt, dieſe Wiſſenſchaften als eine Einheit von denen der<lb/> Natur abzugrenzen, reicht in die Tiefe und Totalität des menſch-<lb/> lichen Selbſtbewußtſeins. Unangerührt noch von Unterſuchungen<lb/> über den Urſprung des Geiſtigen, findet der Menſch in dieſem<lb/> Selbſtbewußtſein eine Souveränität des Willens, eine Verant-<lb/> wortlichkeit der Handlungen, ein Vermögen, Alles dem Gedanken<lb/> zu unterwerfen und Allem innerhalb der Burgfreiheit ſeiner<lb/> Perſon zu widerſtehen, durch welche er ſich von der ganzen Natur<lb/> abſondert. Er findet ſich in dieſer Natur in der That, einen Aus-<lb/> druck Spinoza’s zu gebrauchen, als <hi rendition="#aq">imperium in imperio</hi> <note place="foot" n="1)">Sehr genial drückt Pascal dies Lebensgefühl aus: <hi rendition="#aq">Pensées Art. I.<lb/> ‚Toutes ces misères — prouvent sa grandeur. Ce sont misères de grand<lb/> seigneur, misères d’un roi dépossédé. (3) Nous avons une si grande idée<lb/> de l’âme de l’homme, que nous ne pouvons souffrir d’en être méprisés,<lb/> et de n’être pas dans l’estime d’une âme‘ (5) [Oeuvres Paris 1866 I,<lb/> 248, 249).</hi></note>. Und<lb/> da für ihn nur das beſteht, was Thatſache ſeines Bewußtſeins<lb/> iſt, ſo liegt in dieſer ſelbſtändig in ihm wirkenden geiſtigen<lb/> Welt jeder Werth, jeder Zweck des Lebens, in der Herſtellung<lb/> geiſtiger Thatbeſtände jedes Ziel ſeiner Handlungen. So ſondert<lb/> er von dem Reich der Natur ein Reich der Geſchichte, in welchem,<lb/> mitten in dem Zuſammenhang einer objektiven Nothwendigkeit,<lb/> welcher Natur iſt, Freiheit an unzähligen Punkten dieſes Ganzen<lb/> aufblitzt; hier bringen die Thaten des Willens, im Gegenſatz<lb/> zu dem mechaniſchen Ablauf der Naturveränderungen, welcher im<lb/> Anſatz Alles was in ihm erfolgt ſchon enthält, durch ihren Kraft-<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [7/0030]
Die Geiſteswiſſenſchaften ein ſelbſtändiges Ganze.
angewandt worden iſt; Geſellſchaftswiſſenſchaft (Sociologie), mora-
liſche, geſchichtliche, Cultur-Wiſſenſchaften: alle dieſe Bezeich-
nungen leiden an demſelben Fehler, zu eng zu ſein in Bezug auf
den Gegenſtand, den ſie ausdrücken ſollen. Und der hier gewählte
Name hat wenigſtens den Vorzug, den centralen Thatſachenkreis
angemeſſen zu bezeichnen, von welchem aus in Wirklichkeit die
Einheit dieſer Wiſſenſchaften geſehen, ihr Umfang entworfen, ihre
Abgrenzung gegen die Naturwiſſenſchaften, wenn auch noch ſo
unvollkommen, vollzogen worden iſt.
Der Beweggrund nämlich, von welchem die Gewohnheit aus-
gegangen iſt, dieſe Wiſſenſchaften als eine Einheit von denen der
Natur abzugrenzen, reicht in die Tiefe und Totalität des menſch-
lichen Selbſtbewußtſeins. Unangerührt noch von Unterſuchungen
über den Urſprung des Geiſtigen, findet der Menſch in dieſem
Selbſtbewußtſein eine Souveränität des Willens, eine Verant-
wortlichkeit der Handlungen, ein Vermögen, Alles dem Gedanken
zu unterwerfen und Allem innerhalb der Burgfreiheit ſeiner
Perſon zu widerſtehen, durch welche er ſich von der ganzen Natur
abſondert. Er findet ſich in dieſer Natur in der That, einen Aus-
druck Spinoza’s zu gebrauchen, als imperium in imperio 1). Und
da für ihn nur das beſteht, was Thatſache ſeines Bewußtſeins
iſt, ſo liegt in dieſer ſelbſtändig in ihm wirkenden geiſtigen
Welt jeder Werth, jeder Zweck des Lebens, in der Herſtellung
geiſtiger Thatbeſtände jedes Ziel ſeiner Handlungen. So ſondert
er von dem Reich der Natur ein Reich der Geſchichte, in welchem,
mitten in dem Zuſammenhang einer objektiven Nothwendigkeit,
welcher Natur iſt, Freiheit an unzähligen Punkten dieſes Ganzen
aufblitzt; hier bringen die Thaten des Willens, im Gegenſatz
zu dem mechaniſchen Ablauf der Naturveränderungen, welcher im
Anſatz Alles was in ihm erfolgt ſchon enthält, durch ihren Kraft-
1) Sehr genial drückt Pascal dies Lebensgefühl aus: Pensées Art. I.
‚Toutes ces misères — prouvent sa grandeur. Ce sont misères de grand
seigneur, misères d’un roi dépossédé. (3) Nous avons une si grande idée
de l’âme de l’homme, que nous ne pouvons souffrir d’en être méprisés,
et de n’être pas dans l’estime d’une âme‘ (5) [Oeuvres Paris 1866 I,
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