Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.Erstes einleitendes Buch. Lösung seiner Aufgaben bedient, historisch-kritisch entwickelt, daßan der Anschauung dieses großen Vorganges, dessen Subjekt die Menschheit selber ist, die Natur des Wissens und Erkennens auf diesem Gebiet aufgeklärt werde. Eine solche Methode steht in Gegensatz zu einer neuerdings nur zu häufig gerade von den so- genannten Positivisten geübten, welche aus einer meist in natur- wissenschaftlichen Beschäftigungen erwachsenen Begriffsbestimmung des Wissens den Inhalt des Begriffes Wissenschaft ableitet, und von ihm aus darüber entscheidet, welchen intellektuellen Beschäf- tigungen der Name und Rang einer Wissenschaft zukomme. So haben die Einen, von einem willkürlichen Begriff des Wissens aus, der Geschichtschreibung, wie sie große Meister geübt haben, kurzsichtig und dünkelhaft den Rang der Wissenschaft abgesprochen; die Anderen haben die Wissenschaften, welche Imperative zu ihrer Grundlage haben, gar nicht Urtheile über Wirklichkeit, in Erkennt- niß der Wirklichkeit umbilden zu müssen geglaubt. Der Inbegriff der geistigen Thatsachen, welche unter diesen Erſtes einleitendes Buch. Löſung ſeiner Aufgaben bedient, hiſtoriſch-kritiſch entwickelt, daßan der Anſchauung dieſes großen Vorganges, deſſen Subjekt die Menſchheit ſelber iſt, die Natur des Wiſſens und Erkennens auf dieſem Gebiet aufgeklärt werde. Eine ſolche Methode ſteht in Gegenſatz zu einer neuerdings nur zu häufig gerade von den ſo- genannten Poſitiviſten geübten, welche aus einer meiſt in natur- wiſſenſchaftlichen Beſchäftigungen erwachſenen Begriffsbeſtimmung des Wiſſens den Inhalt des Begriffes Wiſſenſchaft ableitet, und von ihm aus darüber entſcheidet, welchen intellektuellen Beſchäf- tigungen der Name und Rang einer Wiſſenſchaft zukomme. So haben die Einen, von einem willkürlichen Begriff des Wiſſens aus, der Geſchichtſchreibung, wie ſie große Meiſter geübt haben, kurzſichtig und dünkelhaft den Rang der Wiſſenſchaft abgeſprochen; die Anderen haben die Wiſſenſchaften, welche Imperative zu ihrer Grundlage haben, gar nicht Urtheile über Wirklichkeit, in Erkennt- niß der Wirklichkeit umbilden zu müſſen geglaubt. Der Inbegriff der geiſtigen Thatſachen, welche unter dieſen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0029" n="6"/><fw place="top" type="header">Erſtes einleitendes Buch.</fw><lb/> Löſung ſeiner Aufgaben bedient, hiſtoriſch-kritiſch entwickelt, daß<lb/> an der Anſchauung dieſes großen Vorganges, deſſen Subjekt die<lb/> Menſchheit ſelber iſt, die Natur des Wiſſens und Erkennens auf<lb/> dieſem Gebiet aufgeklärt werde. Eine ſolche Methode ſteht in<lb/> Gegenſatz zu einer neuerdings nur zu häufig gerade von den ſo-<lb/> genannten Poſitiviſten geübten, welche aus einer meiſt in natur-<lb/> wiſſenſchaftlichen Beſchäftigungen erwachſenen Begriffsbeſtimmung<lb/> des Wiſſens den Inhalt des Begriffes Wiſſenſchaft ableitet, und<lb/> von ihm aus darüber entſcheidet, welchen intellektuellen Beſchäf-<lb/> tigungen der Name und Rang einer Wiſſenſchaft zukomme. So<lb/> haben die Einen, von einem willkürlichen Begriff des Wiſſens<lb/> aus, der Geſchichtſchreibung, wie ſie große Meiſter geübt haben,<lb/> kurzſichtig und dünkelhaft den Rang der Wiſſenſchaft abgeſprochen;<lb/> die Anderen haben die Wiſſenſchaften, welche Imperative zu ihrer<lb/> Grundlage haben, gar nicht Urtheile über Wirklichkeit, in Erkennt-<lb/> niß der Wirklichkeit umbilden zu müſſen geglaubt.</p><lb/> <p>Der Inbegriff der geiſtigen Thatſachen, welche unter dieſen<lb/> Begriff von Wiſſenſchaft fallen, pflegt in zwei Glieder getheilt zu<lb/> werden, von denen das eine durch den Namen der Naturwiſſenſchaft<lb/> bezeichnet wird; für das andere iſt, merkwürdig genug, eine all-<lb/> gemein anerkannte Bezeichnung nicht vorhanden. Ich ſchließe mich<lb/> an den Sprachgebrauch derjenigen Denker an, welche dieſe andere<lb/> Hälfte des <hi rendition="#aq">globus intellectualis</hi> als Geiſteswiſſenſchaften bezeichnen.<lb/> Einmal iſt dieſe Bezeichnung, nicht am wenigſten durch die weite<lb/> Verbreitung der Logik J. St. Mill’s, eine gewohnte und allge-<lb/> mein verſtändliche geworden. Alsdann erſcheint ſie, verglichen<lb/> mit all den anderen unangemeſſenen Bezeichnungen, zwiſchen denen<lb/> die Wahl iſt, als die mindeſt unangemeſſene. Sie drückt höchſt<lb/> unvollkommen den Gegenſtand dieſes Studiums aus. Denn in<lb/> dieſem ſelber ſind die Thatſachen des geiſtigen Lebens nicht von<lb/> der pſycho-phyſiſchen Lebenseinheit der Menſchennatur getrennt.<lb/> Eine Theorie, welche die geſellſchaftlich-geſchichtlichen Thatſachen<lb/> beſchreiben und analyſiren will, kann nicht von dieſer Totalität der<lb/> Menſchennatur abſehen und ſich auf das Geiſtige einſchränken.<lb/> Aber der Ausdruck theilt dieſen Mangel mit jedem anderen, der<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [6/0029]
Erſtes einleitendes Buch.
Löſung ſeiner Aufgaben bedient, hiſtoriſch-kritiſch entwickelt, daß
an der Anſchauung dieſes großen Vorganges, deſſen Subjekt die
Menſchheit ſelber iſt, die Natur des Wiſſens und Erkennens auf
dieſem Gebiet aufgeklärt werde. Eine ſolche Methode ſteht in
Gegenſatz zu einer neuerdings nur zu häufig gerade von den ſo-
genannten Poſitiviſten geübten, welche aus einer meiſt in natur-
wiſſenſchaftlichen Beſchäftigungen erwachſenen Begriffsbeſtimmung
des Wiſſens den Inhalt des Begriffes Wiſſenſchaft ableitet, und
von ihm aus darüber entſcheidet, welchen intellektuellen Beſchäf-
tigungen der Name und Rang einer Wiſſenſchaft zukomme. So
haben die Einen, von einem willkürlichen Begriff des Wiſſens
aus, der Geſchichtſchreibung, wie ſie große Meiſter geübt haben,
kurzſichtig und dünkelhaft den Rang der Wiſſenſchaft abgeſprochen;
die Anderen haben die Wiſſenſchaften, welche Imperative zu ihrer
Grundlage haben, gar nicht Urtheile über Wirklichkeit, in Erkennt-
niß der Wirklichkeit umbilden zu müſſen geglaubt.
Der Inbegriff der geiſtigen Thatſachen, welche unter dieſen
Begriff von Wiſſenſchaft fallen, pflegt in zwei Glieder getheilt zu
werden, von denen das eine durch den Namen der Naturwiſſenſchaft
bezeichnet wird; für das andere iſt, merkwürdig genug, eine all-
gemein anerkannte Bezeichnung nicht vorhanden. Ich ſchließe mich
an den Sprachgebrauch derjenigen Denker an, welche dieſe andere
Hälfte des globus intellectualis als Geiſteswiſſenſchaften bezeichnen.
Einmal iſt dieſe Bezeichnung, nicht am wenigſten durch die weite
Verbreitung der Logik J. St. Mill’s, eine gewohnte und allge-
mein verſtändliche geworden. Alsdann erſcheint ſie, verglichen
mit all den anderen unangemeſſenen Bezeichnungen, zwiſchen denen
die Wahl iſt, als die mindeſt unangemeſſene. Sie drückt höchſt
unvollkommen den Gegenſtand dieſes Studiums aus. Denn in
dieſem ſelber ſind die Thatſachen des geiſtigen Lebens nicht von
der pſycho-phyſiſchen Lebenseinheit der Menſchennatur getrennt.
Eine Theorie, welche die geſellſchaftlich-geſchichtlichen Thatſachen
beſchreiben und analyſiren will, kann nicht von dieſer Totalität der
Menſchennatur abſehen und ſich auf das Geiſtige einſchränken.
Aber der Ausdruck theilt dieſen Mangel mit jedem anderen, der
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDarüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr] Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |