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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Was der geistige Vorgang am Kosmos auffaßt.
dar, daß wir alle überhaupt möglichen Sinne besitzen 1), sonach
die gesammte Realität auch durch unsere Sinne aufgefaßt wird,
und diese Ueberzeugung kann als der Schlußstein seines objektiven
Realismus betrachtet werden. Wie das Sinnesorgan zum Wahr-
nehmbaren, so verhält sich alsdann die Vernunft, der Nus, zum
Denkbaren. Dem entsprechend erfaßt auch die Vernunft die Prin-
zipien durch eine unmittelbare Anschauung, welche jeden Irrthum
ausschließt 2); ein solches Prinzip ist das Denkgesetz vom Wider-
spruch. Aber weder der Umfang der im Nus angelegten Prinzi-
pien der Erkenntniß noch die Stellung des von den Wahrnehmungen
zurückschreitenden, induktiven Vorgangs zu den ursprünglichen im Nus
angelegten Begriffen und Axiomen gelangt schließlich zur Klarheit.

Dieser objektive Standpunkt des Aristoteles repräsentirt die
natürliche Stellung der Intelligenz des Menschen zum Kosmos.
Und zwar war es nun zweitens durch das Stadium, in welchem
zu der Zeit des Aristoteles die Wissenschaft sich befand, be-
dingt, was
die Intelligenz an dem Kosmos damals erkannte.

Zwar hatte die Wissenschaft des Kosmos von den Objekten die
Betrachtung der allgemeinen Beziehungen losgelöst, welche zwischen
Zahlen, Raumgebilden herrschen 3); dagegen bestand noch kein von
den Objekten abstrahirendes, abgesondertes und in sich zusammen-
hängendes Studium anderer Eigenschaften derselben, wie etwa der
Bewegung, der Schwere oder des Lichtes. Die Schulen des Anaxa-
goras, Leukipp und Demokrit neigten sich einer theilweise oder
ganz mechanischen Betrachtungsweise zu, doch haben auch sie nur
höchst unbestimmte, unzusammenhängende und theilweise irrige
Vorstellungen von Bewegung, Druck, Schwere etc. für ihre Er-
klärung des Kosmos angewandt, und wir erkannten hierin den
Grund, aus dem die mechanische Betrachtungsweise im Kampf mit
derjenigen unterlag, welche die Formen mit psychischen Wesen-

1) de anima III, 1 p. 424 b 22.
2) Vgl. den Schluß der in den beiden Analytiken uns vorliegenden
logischen Hauptschrift Analyt. post. II, 19 p. 100 b.
3) Vgl. S. 181 f.

Was der geiſtige Vorgang am Kosmos auffaßt.
dar, daß wir alle überhaupt möglichen Sinne beſitzen 1), ſonach
die geſammte Realität auch durch unſere Sinne aufgefaßt wird,
und dieſe Ueberzeugung kann als der Schlußſtein ſeines objektiven
Realismus betrachtet werden. Wie das Sinnesorgan zum Wahr-
nehmbaren, ſo verhält ſich alsdann die Vernunft, der Nus, zum
Denkbaren. Dem entſprechend erfaßt auch die Vernunft die Prin-
zipien durch eine unmittelbare Anſchauung, welche jeden Irrthum
ausſchließt 2); ein ſolches Prinzip iſt das Denkgeſetz vom Wider-
ſpruch. Aber weder der Umfang der im Nus angelegten Prinzi-
pien der Erkenntniß noch die Stellung des von den Wahrnehmungen
zurückſchreitenden, induktiven Vorgangs zu den urſprünglichen im Nus
angelegten Begriffen und Axiomen gelangt ſchließlich zur Klarheit.

Dieſer objektive Standpunkt des Ariſtoteles repräſentirt die
natürliche Stellung der Intelligenz des Menſchen zum Kosmos.
Und zwar war es nun zweitens durch das Stadium, in welchem
zu der Zeit des Ariſtoteles die Wiſſenſchaft ſich befand, be-
dingt, was
die Intelligenz an dem Kosmos damals erkannte.

Zwar hatte die Wiſſenſchaft des Kosmos von den Objekten die
Betrachtung der allgemeinen Beziehungen losgelöſt, welche zwiſchen
Zahlen, Raumgebilden herrſchen 3); dagegen beſtand noch kein von
den Objekten abſtrahirendes, abgeſondertes und in ſich zuſammen-
hängendes Studium anderer Eigenſchaften derſelben, wie etwa der
Bewegung, der Schwere oder des Lichtes. Die Schulen des Anaxa-
goras, Leukipp und Demokrit neigten ſich einer theilweiſe oder
ganz mechaniſchen Betrachtungsweiſe zu, doch haben auch ſie nur
höchſt unbeſtimmte, unzuſammenhängende und theilweiſe irrige
Vorſtellungen von Bewegung, Druck, Schwere etc. für ihre Er-
klärung des Kosmos angewandt, und wir erkannten hierin den
Grund, aus dem die mechaniſche Betrachtungsweiſe im Kampf mit
derjenigen unterlag, welche die Formen mit pſychiſchen Weſen-

1) de anima III, 1 p. 424 b 22.
2) Vgl. den Schluß der in den beiden Analytiken uns vorliegenden
logiſchen Hauptſchrift Analyt. post. II, 19 p. 100 b.
3) Vgl. S. 181 f.
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[245/0268] Was der geiſtige Vorgang am Kosmos auffaßt. dar, daß wir alle überhaupt möglichen Sinne beſitzen 1), ſonach die geſammte Realität auch durch unſere Sinne aufgefaßt wird, und dieſe Ueberzeugung kann als der Schlußſtein ſeines objektiven Realismus betrachtet werden. Wie das Sinnesorgan zum Wahr- nehmbaren, ſo verhält ſich alsdann die Vernunft, der Nus, zum Denkbaren. Dem entſprechend erfaßt auch die Vernunft die Prin- zipien durch eine unmittelbare Anſchauung, welche jeden Irrthum ausſchließt 2); ein ſolches Prinzip iſt das Denkgeſetz vom Wider- ſpruch. Aber weder der Umfang der im Nus angelegten Prinzi- pien der Erkenntniß noch die Stellung des von den Wahrnehmungen zurückſchreitenden, induktiven Vorgangs zu den urſprünglichen im Nus angelegten Begriffen und Axiomen gelangt ſchließlich zur Klarheit. Dieſer objektive Standpunkt des Ariſtoteles repräſentirt die natürliche Stellung der Intelligenz des Menſchen zum Kosmos. Und zwar war es nun zweitens durch das Stadium, in welchem zu der Zeit des Ariſtoteles die Wiſſenſchaft ſich befand, be- dingt, was die Intelligenz an dem Kosmos damals erkannte. Zwar hatte die Wiſſenſchaft des Kosmos von den Objekten die Betrachtung der allgemeinen Beziehungen losgelöſt, welche zwiſchen Zahlen, Raumgebilden herrſchen 3); dagegen beſtand noch kein von den Objekten abſtrahirendes, abgeſondertes und in ſich zuſammen- hängendes Studium anderer Eigenſchaften derſelben, wie etwa der Bewegung, der Schwere oder des Lichtes. Die Schulen des Anaxa- goras, Leukipp und Demokrit neigten ſich einer theilweiſe oder ganz mechaniſchen Betrachtungsweiſe zu, doch haben auch ſie nur höchſt unbeſtimmte, unzuſammenhängende und theilweiſe irrige Vorſtellungen von Bewegung, Druck, Schwere etc. für ihre Er- klärung des Kosmos angewandt, und wir erkannten hierin den Grund, aus dem die mechaniſche Betrachtungsweiſe im Kampf mit derjenigen unterlag, welche die Formen mit pſychiſchen Weſen- 1) de anima III, 1 p. 424 b 22. 2) Vgl. den Schluß der in den beiden Analytiken uns vorliegenden logiſchen Hauptſchrift Analyt. post. II, 19 p. 100 b. 3) Vgl. S. 181 f.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 245. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/268>, abgerufen am 18.05.2024.