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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Anaxagoras begründet den Monotheismus auf die Astronomie.
unsere Sinne haben enge Grenzen der Empfindungsfähigkeit: hier-
aus erklärte er den täuschenden Schein qualitativer Veränderungen 1).
Alsdann aber findet sich schon bei Anaxagoras das Theorem von
der Relativität der Größe, das die sophistische Epoche in negativem
Sinne ausgebeutet hat, und dessen Tragweite später Hobbes selb-
ständig entwickelte. Es scheint, daß Anaxagoras im Zusammen-
hang hiermit annahm, jeder für uns vorstellbare kleinste Theil sei
wiederum als ein System zu betrachten, das eine Vielheit von
Theilen in sich fasse. Verschiedene Experimente werden von ihm
überliefert, durch welche er physikalische Grundvorstellungen zu
befestigen unternahm. Als Physiker in eminentem Sinne wurde
er von der Tradition bezeichnet.

Vermittelst einer gewagten Induktion übertrug er nun die
Physik der Erde auf das Himmelsgewölbe.

Am hellen Tage fand bei Aegos Potamoi der Fall eines
sehr großen Meteorsteines Statt. Anaxagoras ging davon aus,
daß derselbe aus der Gestirnwelt stamme, und er schloß so aus
dem Falle dieses Meteorsteines auf die physische Gleichartigkeit des
ganzen Weltgebäudes 2). Da er den Umlauf des Mondes um die
Erde dieser näher als den Umlauf der Sonne ansetzte und ent-
sprechend die Sonnenfinsternisse aus dem Zwischentreten des
Mondes zwischen Erde und Sonne ableitete, so wird er auch aus
den Sonnenfinsternissen geschlossen haben, daß der Mond eine
große, dichte Masse sein müsse 3). Die Schlüsse können nicht mehr

1) Es ist bemerkenswerth, daß das älteste Experiment über Sinnes-
täuschungen
, über das Nachricht auf uns gekommen ist, von ihm in
diesem Zusammenhang zum Beweis verwandt wurde. Setzt man dem
Weiß tropfenweise eine dunkelfarbige Flüssigkeit zu, so vermag unsere
Sinnesempfindung die schrittweisen Veränderungen der Färbung nicht zu
unterscheiden, obgleich in der Wirklichkeit diese Veränderungen stattfinden.
Seine Paradoxie vom schwarzen Schnee gehört demselben Zusammenhang
an. -- Andere Experimente des Anaxagoras Arist. Phys. IV, 6.
2) Dieser Schluß des Anaxagoras aus Silenus erhalten bei Diogenes
Laert. II, 11 f.
Zu dem Folgenden sei bemerkt, daß gemäß dem Zweck der Darlegung
davon abgesehen ist, ob Anaxagoras alle diese Theorien zuerst aufge-
stellt hat.
3) Hippol. philos. VIII, 9 (Diels 562): und zwar verbindet Hipp.

Anaxagoras begründet den Monotheismus auf die Aſtronomie.
unſere Sinne haben enge Grenzen der Empfindungsfähigkeit: hier-
aus erklärte er den täuſchenden Schein qualitativer Veränderungen 1).
Alsdann aber findet ſich ſchon bei Anaxagoras das Theorem von
der Relativität der Größe, das die ſophiſtiſche Epoche in negativem
Sinne ausgebeutet hat, und deſſen Tragweite ſpäter Hobbes ſelb-
ſtändig entwickelte. Es ſcheint, daß Anaxagoras im Zuſammen-
hang hiermit annahm, jeder für uns vorſtellbare kleinſte Theil ſei
wiederum als ein Syſtem zu betrachten, das eine Vielheit von
Theilen in ſich faſſe. Verſchiedene Experimente werden von ihm
überliefert, durch welche er phyſikaliſche Grundvorſtellungen zu
befeſtigen unternahm. Als Phyſiker in eminentem Sinne wurde
er von der Tradition bezeichnet.

Vermittelſt einer gewagten Induktion übertrug er nun die
Phyſik der Erde auf das Himmelsgewölbe.

Am hellen Tage fand bei Aegos Potamoi der Fall eines
ſehr großen Meteorſteines Statt. Anaxagoras ging davon aus,
daß derſelbe aus der Geſtirnwelt ſtamme, und er ſchloß ſo aus
dem Falle dieſes Meteorſteines auf die phyſiſche Gleichartigkeit des
ganzen Weltgebäudes 2). Da er den Umlauf des Mondes um die
Erde dieſer näher als den Umlauf der Sonne anſetzte und ent-
ſprechend die Sonnenfinſterniſſe aus dem Zwiſchentreten des
Mondes zwiſchen Erde und Sonne ableitete, ſo wird er auch aus
den Sonnenfinſterniſſen geſchloſſen haben, daß der Mond eine
große, dichte Maſſe ſein müſſe 3). Die Schlüſſe können nicht mehr

1) Es iſt bemerkenswerth, daß das älteſte Experiment über Sinnes-
täuſchungen
, über das Nachricht auf uns gekommen iſt, von ihm in
dieſem Zuſammenhang zum Beweis verwandt wurde. Setzt man dem
Weiß tropfenweiſe eine dunkelfarbige Flüſſigkeit zu, ſo vermag unſere
Sinnesempfindung die ſchrittweiſen Veränderungen der Färbung nicht zu
unterſcheiden, obgleich in der Wirklichkeit dieſe Veränderungen ſtattfinden.
Seine Paradoxie vom ſchwarzen Schnee gehört demſelben Zuſammenhang
an. — Andere Experimente des Anaxagoras Ariſt. Phys. IV, 6.
2) Dieſer Schluß des Anaxagoras aus Silenus erhalten bei Diogenes
Laert. II, 11 f.
Zu dem Folgenden ſei bemerkt, daß gemäß dem Zweck der Darlegung
davon abgeſehen iſt, ob Anaxagoras alle dieſe Theorien zuerſt aufge-
ſtellt hat.
3) Hippol. philos. VIII, 9 (Diels 562): und zwar verbindet Hipp.
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[203/0226] Anaxagoras begründet den Monotheismus auf die Aſtronomie. unſere Sinne haben enge Grenzen der Empfindungsfähigkeit: hier- aus erklärte er den täuſchenden Schein qualitativer Veränderungen 1). Alsdann aber findet ſich ſchon bei Anaxagoras das Theorem von der Relativität der Größe, das die ſophiſtiſche Epoche in negativem Sinne ausgebeutet hat, und deſſen Tragweite ſpäter Hobbes ſelb- ſtändig entwickelte. Es ſcheint, daß Anaxagoras im Zuſammen- hang hiermit annahm, jeder für uns vorſtellbare kleinſte Theil ſei wiederum als ein Syſtem zu betrachten, das eine Vielheit von Theilen in ſich faſſe. Verſchiedene Experimente werden von ihm überliefert, durch welche er phyſikaliſche Grundvorſtellungen zu befeſtigen unternahm. Als Phyſiker in eminentem Sinne wurde er von der Tradition bezeichnet. Vermittelſt einer gewagten Induktion übertrug er nun die Phyſik der Erde auf das Himmelsgewölbe. Am hellen Tage fand bei Aegos Potamoi der Fall eines ſehr großen Meteorſteines Statt. Anaxagoras ging davon aus, daß derſelbe aus der Geſtirnwelt ſtamme, und er ſchloß ſo aus dem Falle dieſes Meteorſteines auf die phyſiſche Gleichartigkeit des ganzen Weltgebäudes 2). Da er den Umlauf des Mondes um die Erde dieſer näher als den Umlauf der Sonne anſetzte und ent- ſprechend die Sonnenfinſterniſſe aus dem Zwiſchentreten des Mondes zwiſchen Erde und Sonne ableitete, ſo wird er auch aus den Sonnenfinſterniſſen geſchloſſen haben, daß der Mond eine große, dichte Maſſe ſein müſſe 3). Die Schlüſſe können nicht mehr 1) Es iſt bemerkenswerth, daß das älteſte Experiment über Sinnes- täuſchungen, über das Nachricht auf uns gekommen iſt, von ihm in dieſem Zuſammenhang zum Beweis verwandt wurde. Setzt man dem Weiß tropfenweiſe eine dunkelfarbige Flüſſigkeit zu, ſo vermag unſere Sinnesempfindung die ſchrittweiſen Veränderungen der Färbung nicht zu unterſcheiden, obgleich in der Wirklichkeit dieſe Veränderungen ſtattfinden. Seine Paradoxie vom ſchwarzen Schnee gehört demſelben Zuſammenhang an. — Andere Experimente des Anaxagoras Ariſt. Phys. IV, 6. 2) Dieſer Schluß des Anaxagoras aus Silenus erhalten bei Diogenes Laert. II, 11 f. Zu dem Folgenden ſei bemerkt, daß gemäß dem Zweck der Darlegung davon abgeſehen iſt, ob Anaxagoras alle dieſe Theorien zuerſt aufge- ſtellt hat. 3) Hippol. philos. VIII, 9 (Diels 562): und zwar verbindet Hipp.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 203. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/226>, abgerufen am 22.11.2024.