Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweites Buch. Zweiter Abschnitt.
auf einleuchtende Weise hergestellt werden, vermöge deren er
nun Stellungen, Größen und Ursachen des Leuchtens für die
einzelnen Gestirne bestimmte. Die Mondfinsternisse erklärte er
theils aus dem Erdschatten, theils aus zwischen Erde und Mond
befindlichen, dunklen Körpern. -- Die der Erde nächste Bahn
unter den uns bekannten Gestirnen beschreibt der Mond, offenbar
da er in den Sonnenfinsternissen zwischen Erde und Sonne tritt.
Anaxagoras stellte eine Theorie der Mondphasen auf und, wie
Plato als seine Aufsehen machende Behauptung hervorhob 1), leitete
er das Licht des Mondes (mindestens theilweise) aus der Be-
strahlung desselben durch die Sonne ab; "indem die Sonne im
Kreise um ihn herumgeht, wirft sie immer neues Licht auf
ihn (den Mond)" 2). In Zusammenhang hiermit hielt er den
Mond mit seinen Schluchten und Bergen für bewohnt; es erinnert
an den Meteorstein, wenn er die Fabel, daß der nemeische Löwe
vom Himmel gefallen sei, dahin interpretirte: derselbe möge wol
aus dem Monde gefallen sein. -- Die Sonne dachte er als eine
glühende Steinmasse, in einer entfernteren Region des Himmels um-
laufend; indem er wol ihre Größe mit der des Mondes verglich,
erklärte er sie für viel größer, als den Peloponnes, welchem er
den Mond gleich setzte. -- Auch die Sterne waren ihm solche
glühende Massen, deren Wärme wir nur wegen der Entfernung
nicht empfinden.

Diese Erkenntniß der physischen Gleichartigkeit in der Be-
schaffenheit aller Körper diente ihm als Lehrsatz, um, auf Grund
der den Untersatz bildenden Thatsache der Umdrehung der Gestirne,
seinen großen metaphysischen Schluß zu vollziehen. Denn in dem
Theorem von der physischen Gleichartigkeit aller Weltkörper war
auch die Einsicht enthalten, daß die Schwerkraft in ihnen allen
wirke. Hieraus ergab sich die Nothwendigkeit der Annahme einer

in seinem Bericht miteinander: Anaxagoras habe Finsternisse und Mond-
phasen zuerst genau bestimmt, und: er habe den Mond für einen erdartigen
Körper erklärt sowie Berge und Thäler auf ihm angenommen.
1) Vergl. indeß Parmenides v. 144 (Mullach I, 128).
2) Im Cratylus 409 A.

Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
auf einleuchtende Weiſe hergeſtellt werden, vermöge deren er
nun Stellungen, Größen und Urſachen des Leuchtens für die
einzelnen Geſtirne beſtimmte. Die Mondfinſterniſſe erklärte er
theils aus dem Erdſchatten, theils aus zwiſchen Erde und Mond
befindlichen, dunklen Körpern. — Die der Erde nächſte Bahn
unter den uns bekannten Geſtirnen beſchreibt der Mond, offenbar
da er in den Sonnenfinſterniſſen zwiſchen Erde und Sonne tritt.
Anaxagoras ſtellte eine Theorie der Mondphaſen auf und, wie
Plato als ſeine Aufſehen machende Behauptung hervorhob 1), leitete
er das Licht des Mondes (mindeſtens theilweiſe) aus der Be-
ſtrahlung deſſelben durch die Sonne ab; „indem die Sonne im
Kreiſe um ihn herumgeht, wirft ſie immer neues Licht auf
ihn (den Mond)“ 2). In Zuſammenhang hiermit hielt er den
Mond mit ſeinen Schluchten und Bergen für bewohnt; es erinnert
an den Meteorſtein, wenn er die Fabel, daß der nemeiſche Löwe
vom Himmel gefallen ſei, dahin interpretirte: derſelbe möge wol
aus dem Monde gefallen ſein. — Die Sonne dachte er als eine
glühende Steinmaſſe, in einer entfernteren Region des Himmels um-
laufend; indem er wol ihre Größe mit der des Mondes verglich,
erklärte er ſie für viel größer, als den Peloponnes, welchem er
den Mond gleich ſetzte. — Auch die Sterne waren ihm ſolche
glühende Maſſen, deren Wärme wir nur wegen der Entfernung
nicht empfinden.

Dieſe Erkenntniß der phyſiſchen Gleichartigkeit in der Be-
ſchaffenheit aller Körper diente ihm als Lehrſatz, um, auf Grund
der den Unterſatz bildenden Thatſache der Umdrehung der Geſtirne,
ſeinen großen metaphyſiſchen Schluß zu vollziehen. Denn in dem
Theorem von der phyſiſchen Gleichartigkeit aller Weltkörper war
auch die Einſicht enthalten, daß die Schwerkraft in ihnen allen
wirke. Hieraus ergab ſich die Nothwendigkeit der Annahme einer

in ſeinem Bericht miteinander: Anaxagoras habe Finſterniſſe und Mond-
phaſen zuerſt genau beſtimmt, und: er habe den Mond für einen erdartigen
Körper erklärt ſowie Berge und Thäler auf ihm angenommen.
1) Vergl. indeß Parmenides v. 144 (Mullach I, 128).
2) Im Cratylus 409 A.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0227" n="204"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Zweiter Ab&#x017F;chnitt.</fw><lb/>
auf einleuchtende Wei&#x017F;e herge&#x017F;tellt werden, vermöge deren er<lb/>
nun Stellungen, Größen und Ur&#x017F;achen des Leuchtens für die<lb/>
einzelnen Ge&#x017F;tirne be&#x017F;timmte. Die Mondfin&#x017F;terni&#x017F;&#x017F;e erklärte er<lb/>
theils aus dem Erd&#x017F;chatten, theils aus zwi&#x017F;chen Erde und Mond<lb/>
befindlichen, dunklen Körpern. &#x2014; Die der Erde näch&#x017F;te Bahn<lb/>
unter den uns bekannten Ge&#x017F;tirnen be&#x017F;chreibt der Mond, offenbar<lb/>
da er in den Sonnenfin&#x017F;terni&#x017F;&#x017F;en zwi&#x017F;chen Erde und Sonne tritt.<lb/>
Anaxagoras &#x017F;tellte eine Theorie der Mondpha&#x017F;en auf und, wie<lb/>
Plato als &#x017F;eine Auf&#x017F;ehen machende Behauptung hervorhob <note place="foot" n="1)">Vergl. indeß Parmenides <hi rendition="#aq">v. 144</hi> (Mullach <hi rendition="#aq">I, 128</hi>).</note>, leitete<lb/>
er das Licht des Mondes (minde&#x017F;tens theilwei&#x017F;e) aus der Be-<lb/>
&#x017F;trahlung de&#x017F;&#x017F;elben durch die Sonne ab; &#x201E;indem die Sonne im<lb/>
Krei&#x017F;e um ihn herumgeht, wirft &#x017F;ie immer neues Licht auf<lb/>
ihn (den Mond)&#x201C; <note place="foot" n="2)">Im Cratylus <hi rendition="#aq">409 A.</hi></note>. In Zu&#x017F;ammenhang hiermit hielt er den<lb/>
Mond mit &#x017F;einen Schluchten und Bergen für bewohnt; es erinnert<lb/>
an den Meteor&#x017F;tein, wenn er die Fabel, daß der nemei&#x017F;che Löwe<lb/>
vom Himmel gefallen &#x017F;ei, dahin interpretirte: der&#x017F;elbe möge wol<lb/>
aus dem Monde gefallen &#x017F;ein. &#x2014; Die Sonne dachte er als eine<lb/>
glühende Steinma&#x017F;&#x017F;e, in einer entfernteren Region des Himmels um-<lb/>
laufend; indem er wol ihre Größe mit der des Mondes verglich,<lb/>
erklärte er &#x017F;ie für viel größer, als den Peloponnes, welchem er<lb/>
den Mond gleich &#x017F;etzte. &#x2014; Auch die Sterne waren ihm &#x017F;olche<lb/>
glühende Ma&#x017F;&#x017F;en, deren Wärme wir nur wegen der Entfernung<lb/>
nicht empfinden.</p><lb/>
            <p>Die&#x017F;e Erkenntniß der phy&#x017F;i&#x017F;chen Gleichartigkeit in der Be-<lb/>
&#x017F;chaffenheit aller Körper diente ihm als Lehr&#x017F;atz, um, auf Grund<lb/>
der den Unter&#x017F;atz bildenden That&#x017F;ache der Umdrehung der Ge&#x017F;tirne,<lb/>
&#x017F;einen großen metaphy&#x017F;i&#x017F;chen Schluß zu vollziehen. Denn in dem<lb/>
Theorem von der phy&#x017F;i&#x017F;chen Gleichartigkeit aller Weltkörper war<lb/>
auch die Ein&#x017F;icht enthalten, daß die Schwerkraft in ihnen allen<lb/>
wirke. Hieraus ergab &#x017F;ich die Nothwendigkeit der Annahme einer<lb/><note xml:id="note-0227" prev="#note-0226" place="foot" n="3)">in &#x017F;einem Bericht miteinander: Anaxagoras habe Fin&#x017F;terni&#x017F;&#x017F;e und Mond-<lb/>
pha&#x017F;en zuer&#x017F;t genau be&#x017F;timmt, und: er habe den Mond für einen erdartigen<lb/>
Körper erklärt &#x017F;owie Berge und Thäler auf ihm angenommen.</note><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[204/0227] Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. auf einleuchtende Weiſe hergeſtellt werden, vermöge deren er nun Stellungen, Größen und Urſachen des Leuchtens für die einzelnen Geſtirne beſtimmte. Die Mondfinſterniſſe erklärte er theils aus dem Erdſchatten, theils aus zwiſchen Erde und Mond befindlichen, dunklen Körpern. — Die der Erde nächſte Bahn unter den uns bekannten Geſtirnen beſchreibt der Mond, offenbar da er in den Sonnenfinſterniſſen zwiſchen Erde und Sonne tritt. Anaxagoras ſtellte eine Theorie der Mondphaſen auf und, wie Plato als ſeine Aufſehen machende Behauptung hervorhob 1), leitete er das Licht des Mondes (mindeſtens theilweiſe) aus der Be- ſtrahlung deſſelben durch die Sonne ab; „indem die Sonne im Kreiſe um ihn herumgeht, wirft ſie immer neues Licht auf ihn (den Mond)“ 2). In Zuſammenhang hiermit hielt er den Mond mit ſeinen Schluchten und Bergen für bewohnt; es erinnert an den Meteorſtein, wenn er die Fabel, daß der nemeiſche Löwe vom Himmel gefallen ſei, dahin interpretirte: derſelbe möge wol aus dem Monde gefallen ſein. — Die Sonne dachte er als eine glühende Steinmaſſe, in einer entfernteren Region des Himmels um- laufend; indem er wol ihre Größe mit der des Mondes verglich, erklärte er ſie für viel größer, als den Peloponnes, welchem er den Mond gleich ſetzte. — Auch die Sterne waren ihm ſolche glühende Maſſen, deren Wärme wir nur wegen der Entfernung nicht empfinden. Dieſe Erkenntniß der phyſiſchen Gleichartigkeit in der Be- ſchaffenheit aller Körper diente ihm als Lehrſatz, um, auf Grund der den Unterſatz bildenden Thatſache der Umdrehung der Geſtirne, ſeinen großen metaphyſiſchen Schluß zu vollziehen. Denn in dem Theorem von der phyſiſchen Gleichartigkeit aller Weltkörper war auch die Einſicht enthalten, daß die Schwerkraft in ihnen allen wirke. Hieraus ergab ſich die Nothwendigkeit der Annahme einer 3) 1) Vergl. indeß Parmenides v. 144 (Mullach I, 128). 2) Im Cratylus 409 A. 3) in ſeinem Bericht miteinander: Anaxagoras habe Finſterniſſe und Mond- phaſen zuerſt genau beſtimmt, und: er habe den Mond für einen erdartigen Körper erklärt ſowie Berge und Thäler auf ihm angenommen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/227
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/227>, abgerufen am 06.05.2024.