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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Zweiter Abschnitt.

Die Trümmer seines Werkes über die Natur athmen dieselbe
einfache Majestät. Man hält unwillkürlich den Anfang desselben
mit der großen Urkunde des Monotheismus der Israeliten, der
Schöpfungsgeschichte, zusammen. "Zusammt waren alle Dinge,
unermeßlich an Menge und Kleinheit; denn auch das Kleine war
ein Unermeßliches. Und da Alles zusammt war, war nichts
deutlich hervortretend, wegen der Kleinheit" 1). Anaxagoras zer-
gliederte aber den Anfangszustand der Materie mit den Hilfs-
mitteln der unteritalischen Metaphysik. Die älteste Vorstellung
von einer in selbstthätiger Umwandlung begriffenen Materie, welche
Alles abzuleiten gestattete und sonach im Grunde Nichts, war in
dieser unteritalischen Metaphysik beseitigt worden. Ihr folgend
und mit Empedocles und Demokrit hierin einig, legte Anaxagoras
seinem Denken den folgenden Satz zu Grunde: "Die Hellenen
sprechen nicht mit Recht von Entstehung und Untergang. Denn
kein Ding entsteht, noch geht es zu Grunde" 2). Verbindung und
Trennung, sonach Bewegung der Substanzen im Raume, trat an
die Stelle von Entstehung und Untergang. Diese Massentheilchen,
welche Anaxagoras, Leukipp und Demokrit zu Grunde legten, sind
die Basis jeder Theorie über den Naturzusammenhang geblieben,
welche einen festen, der Rechnung zugänglichen Ansatz fordert. In
mehreren Punkten unterschieden sich nun die "Samen der Dinge" 3),
auch kurzweg "Dinge" des Anaxagoras (sozusagen die Dinge im
Kleinen) von den Atomen des Demokrit. Anaxagoras, nach der
Lage der Forschung zu seiner Zeit, entwickelte den denkbar härtesten
Realismus. In seinen Massentheilchen ist jede Abstufung von
Qualität, welche die sinnliche Wahrnehmung irgendwo darbietet,
gegeben. Und da ihm nun jede Vorstellung des chemischen Pro-
zesses fehlte, mußte er zu zwei Hilfssätzen greifen, deren Paradoxie
die Tradition nicht mehr aus dem Zusammenhang verstanden hat.
In jedem Naturobjekt sind alle Samen der Dinge enthalten; aber

1) Simplic. in phys. f. 33 v. (Mullach I, 248 fr. 1.)
2) Simplic. in phys. f. 34 v. (Mullach I, 251 fr. 17.)
3) Simplic. in phys. f. 35 v. (Mullach I, 248 fr. 3.): spermata
panton khrematon.
Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.

Die Trümmer ſeines Werkes über die Natur athmen dieſelbe
einfache Majeſtät. Man hält unwillkürlich den Anfang deſſelben
mit der großen Urkunde des Monotheismus der Iſraeliten, der
Schöpfungsgeſchichte, zuſammen. „Zuſammt waren alle Dinge,
unermeßlich an Menge und Kleinheit; denn auch das Kleine war
ein Unermeßliches. Und da Alles zuſammt war, war nichts
deutlich hervortretend, wegen der Kleinheit“ 1). Anaxagoras zer-
gliederte aber den Anfangszuſtand der Materie mit den Hilfs-
mitteln der unteritaliſchen Metaphyſik. Die älteſte Vorſtellung
von einer in ſelbſtthätiger Umwandlung begriffenen Materie, welche
Alles abzuleiten geſtattete und ſonach im Grunde Nichts, war in
dieſer unteritaliſchen Metaphyſik beſeitigt worden. Ihr folgend
und mit Empedocles und Demokrit hierin einig, legte Anaxagoras
ſeinem Denken den folgenden Satz zu Grunde: „Die Hellenen
ſprechen nicht mit Recht von Entſtehung und Untergang. Denn
kein Ding entſteht, noch geht es zu Grunde“ 2). Verbindung und
Trennung, ſonach Bewegung der Subſtanzen im Raume, trat an
die Stelle von Entſtehung und Untergang. Dieſe Maſſentheilchen,
welche Anaxagoras, Leukipp und Demokrit zu Grunde legten, ſind
die Baſis jeder Theorie über den Naturzuſammenhang geblieben,
welche einen feſten, der Rechnung zugänglichen Anſatz fordert. In
mehreren Punkten unterſchieden ſich nun die „Samen der Dinge“ 3),
auch kurzweg „Dinge“ des Anaxagoras (ſozuſagen die Dinge im
Kleinen) von den Atomen des Demokrit. Anaxagoras, nach der
Lage der Forſchung zu ſeiner Zeit, entwickelte den denkbar härteſten
Realismus. In ſeinen Maſſentheilchen iſt jede Abſtufung von
Qualität, welche die ſinnliche Wahrnehmung irgendwo darbietet,
gegeben. Und da ihm nun jede Vorſtellung des chemiſchen Pro-
zeſſes fehlte, mußte er zu zwei Hilfsſätzen greifen, deren Paradoxie
die Tradition nicht mehr aus dem Zuſammenhang verſtanden hat.
In jedem Naturobjekt ſind alle Samen der Dinge enthalten; aber

1) Simplic. in phys. f. 33 v. (Mullach I, 248 fr. 1.)
2) Simplic. in phys. f. 34 v. (Mullach I, 251 fr. 17.)
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[202/0225] Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. Die Trümmer ſeines Werkes über die Natur athmen dieſelbe einfache Majeſtät. Man hält unwillkürlich den Anfang deſſelben mit der großen Urkunde des Monotheismus der Iſraeliten, der Schöpfungsgeſchichte, zuſammen. „Zuſammt waren alle Dinge, unermeßlich an Menge und Kleinheit; denn auch das Kleine war ein Unermeßliches. Und da Alles zuſammt war, war nichts deutlich hervortretend, wegen der Kleinheit“ 1). Anaxagoras zer- gliederte aber den Anfangszuſtand der Materie mit den Hilfs- mitteln der unteritaliſchen Metaphyſik. Die älteſte Vorſtellung von einer in ſelbſtthätiger Umwandlung begriffenen Materie, welche Alles abzuleiten geſtattete und ſonach im Grunde Nichts, war in dieſer unteritaliſchen Metaphyſik beſeitigt worden. Ihr folgend und mit Empedocles und Demokrit hierin einig, legte Anaxagoras ſeinem Denken den folgenden Satz zu Grunde: „Die Hellenen ſprechen nicht mit Recht von Entſtehung und Untergang. Denn kein Ding entſteht, noch geht es zu Grunde“ 2). Verbindung und Trennung, ſonach Bewegung der Subſtanzen im Raume, trat an die Stelle von Entſtehung und Untergang. Dieſe Maſſentheilchen, welche Anaxagoras, Leukipp und Demokrit zu Grunde legten, ſind die Baſis jeder Theorie über den Naturzuſammenhang geblieben, welche einen feſten, der Rechnung zugänglichen Anſatz fordert. In mehreren Punkten unterſchieden ſich nun die „Samen der Dinge“ 3), auch kurzweg „Dinge“ des Anaxagoras (ſozuſagen die Dinge im Kleinen) von den Atomen des Demokrit. Anaxagoras, nach der Lage der Forſchung zu ſeiner Zeit, entwickelte den denkbar härteſten Realismus. In ſeinen Maſſentheilchen iſt jede Abſtufung von Qualität, welche die ſinnliche Wahrnehmung irgendwo darbietet, gegeben. Und da ihm nun jede Vorſtellung des chemiſchen Pro- zeſſes fehlte, mußte er zu zwei Hilfsſätzen greifen, deren Paradoxie die Tradition nicht mehr aus dem Zuſammenhang verſtanden hat. In jedem Naturobjekt ſind alle Samen der Dinge enthalten; aber 1) Simplic. in phys. f. 33 v. (Mullach I, 248 fr. 1.) 2) Simplic. in phys. f. 34 v. (Mullach I, 251 fr. 17.) 3) Simplic. in phys. f. 35 v. (Mullach I, 248 fr. 3.): σπέϱματα πάντων χϱημάτων.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/225>, abgerufen am 25.11.2024.