Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweites Buch. Erster Abschnitt.
deutung für die intellektuelle Entwicklung in der fortschreitenden
Orientirung innerhalb des Weltraums, mit den Hilfsmitteln der
Mathematik und der Astronomie. In dieser Schule entwickelte
sich eine von dem Zweck der Benutzung losgelöste Betrachtung
der Verhältnisse von Zahlen, von Raumgebilden, sonach reine
mathematische Wissenschaft. Ja ihre Untersuchungen hatten bereits
die Beziehungen zwischen Zahlen und Raumgrößen zum Gegen-
stande, so entstand ihnen die Idee des Irrationalen auf dem Ge-
biete der Mathematik. Auch ihr Schema des Kosmos war
astronomisch: in der Mitte der Welt das Begrenzende, Ge-
staltende, welches ihnen im schönsten griechischen Geiste das Gött-
liche ist; indem es das Grenzenlose an sich zieht, entsteht die
zahlenmäßige Ordnung des Kosmos.

Alle diese Erklärungen des Weltganzen, ob sie gleich als Er-
klärungen an der allmäligen Auflösung des mythischen Vorstellens
arbeiteten, waren noch mit einem sehr erheblichen Bestand-
theil von mythischem Glauben vermischt
. Das Prinzip,
aus welchem diese ersten Forscher ableiteten, hatte noch viele Eigen-
schaften des mythischen Zusammenhangs. Es enthielt in sich eine den
mythischen Kräften verwandte Bildungskraft, Fähigkeit der Um-
wandlung, Zweckmäßigkeit, gleichsam die Fußspuren der Götter in
seinem Wirken. So war es auch mit einem von diesen Physikern
festgehaltenen mythischen Götterglauben in für uns kaum sichtbaren
Wurzeln verschlungen. Die Ueberzeugung des Thales, daß das
Weltall von Gottheiten erfüllt sei, darf nicht in einen modernen
Pantheismus umgedeutet werden. Der mythische Glaube des Anaxi-
mander läßt alle Dinge durch ihren Untergang für das Unrecht
ihres Sonderdaseins Buße und Strafe leiden, gemäß der Ordnung
der Zeit. Keine andere Lehre kann dem Pythagoras so sicher zu-
geschrieben werden, als die von der Seelenwanderung, und der von
ihm gestiftete Verband hing am Apollokultus und an religiösen
Riten mit konservativer Festigkeit. Vorstellungen des Vollkommnen
bestimmen das kosmische Bild der unteritalischen Schulen. Und zwar
tritt hier der für den griechischen Geist so bezeichnende Gedanke
hervor, daß das Begrenzte das Göttliche sei -- wogegen man den

Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.
deutung für die intellektuelle Entwicklung in der fortſchreitenden
Orientirung innerhalb des Weltraums, mit den Hilfsmitteln der
Mathematik und der Aſtronomie. In dieſer Schule entwickelte
ſich eine von dem Zweck der Benutzung losgelöſte Betrachtung
der Verhältniſſe von Zahlen, von Raumgebilden, ſonach reine
mathematiſche Wiſſenſchaft. Ja ihre Unterſuchungen hatten bereits
die Beziehungen zwiſchen Zahlen und Raumgrößen zum Gegen-
ſtande, ſo entſtand ihnen die Idee des Irrationalen auf dem Ge-
biete der Mathematik. Auch ihr Schema des Kosmos war
aſtronomiſch: in der Mitte der Welt das Begrenzende, Ge-
ſtaltende, welches ihnen im ſchönſten griechiſchen Geiſte das Gött-
liche iſt; indem es das Grenzenloſe an ſich zieht, entſteht die
zahlenmäßige Ordnung des Kosmos.

Alle dieſe Erklärungen des Weltganzen, ob ſie gleich als Er-
klärungen an der allmäligen Auflöſung des mythiſchen Vorſtellens
arbeiteten, waren noch mit einem ſehr erheblichen Beſtand-
theil von mythiſchem Glauben vermiſcht
. Das Prinzip,
aus welchem dieſe erſten Forſcher ableiteten, hatte noch viele Eigen-
ſchaften des mythiſchen Zuſammenhangs. Es enthielt in ſich eine den
mythiſchen Kräften verwandte Bildungskraft, Fähigkeit der Um-
wandlung, Zweckmäßigkeit, gleichſam die Fußſpuren der Götter in
ſeinem Wirken. So war es auch mit einem von dieſen Phyſikern
feſtgehaltenen mythiſchen Götterglauben in für uns kaum ſichtbaren
Wurzeln verſchlungen. Die Ueberzeugung des Thales, daß das
Weltall von Gottheiten erfüllt ſei, darf nicht in einen modernen
Pantheismus umgedeutet werden. Der mythiſche Glaube des Anaxi-
mander läßt alle Dinge durch ihren Untergang für das Unrecht
ihres Sonderdaſeins Buße und Strafe leiden, gemäß der Ordnung
der Zeit. Keine andere Lehre kann dem Pythagoras ſo ſicher zu-
geſchrieben werden, als die von der Seelenwanderung, und der von
ihm geſtiftete Verband hing am Apollokultus und an religiöſen
Riten mit konſervativer Feſtigkeit. Vorſtellungen des Vollkommnen
beſtimmen das kosmiſche Bild der unteritaliſchen Schulen. Und zwar
tritt hier der für den griechiſchen Geiſt ſo bezeichnende Gedanke
hervor, daß das Begrenzte das Göttliche ſei — wogegen man den

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0207" n="184"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Er&#x017F;ter Ab&#x017F;chnitt.</fw><lb/>
deutung für die intellektuelle Entwicklung in der fort&#x017F;chreitenden<lb/>
Orientirung innerhalb des Weltraums, mit den Hilfsmitteln der<lb/>
Mathematik und der A&#x017F;tronomie. In die&#x017F;er Schule entwickelte<lb/>
&#x017F;ich eine von dem Zweck der Benutzung losgelö&#x017F;te Betrachtung<lb/>
der Verhältni&#x017F;&#x017F;e von Zahlen, von Raumgebilden, &#x017F;onach reine<lb/>
mathemati&#x017F;che Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft. Ja ihre Unter&#x017F;uchungen hatten bereits<lb/>
die Beziehungen zwi&#x017F;chen Zahlen und Raumgrößen zum Gegen-<lb/>
&#x017F;tande, &#x017F;o ent&#x017F;tand ihnen die Idee des Irrationalen auf dem Ge-<lb/>
biete der Mathematik. Auch <hi rendition="#g">ihr</hi> Schema des Kosmos war<lb/>
a&#x017F;tronomi&#x017F;ch: in der Mitte der Welt das Begrenzende, Ge-<lb/>
&#x017F;taltende, welches ihnen im &#x017F;chön&#x017F;ten griechi&#x017F;chen Gei&#x017F;te das Gött-<lb/>
liche i&#x017F;t; indem es das Grenzenlo&#x017F;e an &#x017F;ich zieht, ent&#x017F;teht die<lb/>
zahlenmäßige Ordnung des Kosmos.</p><lb/>
            <p>Alle die&#x017F;e Erklärungen des Weltganzen, ob &#x017F;ie gleich als Er-<lb/>
klärungen an der allmäligen Auflö&#x017F;ung des mythi&#x017F;chen Vor&#x017F;tellens<lb/>
arbeiteten, waren noch mit <hi rendition="#g">einem &#x017F;ehr erheblichen Be&#x017F;tand-<lb/>
theil von mythi&#x017F;chem Glauben vermi&#x017F;cht</hi>. Das Prinzip,<lb/>
aus welchem die&#x017F;e er&#x017F;ten For&#x017F;cher ableiteten, hatte noch viele Eigen-<lb/>
&#x017F;chaften des mythi&#x017F;chen Zu&#x017F;ammenhangs. Es enthielt in &#x017F;ich eine den<lb/>
mythi&#x017F;chen Kräften verwandte Bildungskraft, Fähigkeit der Um-<lb/>
wandlung, Zweckmäßigkeit, gleich&#x017F;am die Fuß&#x017F;puren der Götter in<lb/>
&#x017F;einem Wirken. So war es auch mit einem von die&#x017F;en Phy&#x017F;ikern<lb/>
fe&#x017F;tgehaltenen mythi&#x017F;chen Götterglauben in für uns kaum &#x017F;ichtbaren<lb/>
Wurzeln ver&#x017F;chlungen. Die Ueberzeugung des Thales, daß das<lb/>
Weltall von Gottheiten erfüllt &#x017F;ei, darf nicht in einen modernen<lb/>
Pantheismus umgedeutet werden. Der mythi&#x017F;che Glaube des Anaxi-<lb/>
mander läßt alle Dinge durch ihren Untergang für das Unrecht<lb/>
ihres Sonderda&#x017F;eins Buße und Strafe leiden, gemäß der Ordnung<lb/>
der Zeit. Keine andere Lehre kann dem Pythagoras &#x017F;o &#x017F;icher zu-<lb/>
ge&#x017F;chrieben werden, als die von der Seelenwanderung, und der von<lb/>
ihm ge&#x017F;tiftete Verband hing am Apollokultus und an religiö&#x017F;en<lb/>
Riten mit kon&#x017F;ervativer Fe&#x017F;tigkeit. Vor&#x017F;tellungen des Vollkommnen<lb/>
be&#x017F;timmen das kosmi&#x017F;che Bild der unteritali&#x017F;chen Schulen. Und zwar<lb/>
tritt hier der für den griechi&#x017F;chen Gei&#x017F;t &#x017F;o bezeichnende Gedanke<lb/>
hervor, daß das Begrenzte das Göttliche &#x017F;ei &#x2014; wogegen man den<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[184/0207] Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. deutung für die intellektuelle Entwicklung in der fortſchreitenden Orientirung innerhalb des Weltraums, mit den Hilfsmitteln der Mathematik und der Aſtronomie. In dieſer Schule entwickelte ſich eine von dem Zweck der Benutzung losgelöſte Betrachtung der Verhältniſſe von Zahlen, von Raumgebilden, ſonach reine mathematiſche Wiſſenſchaft. Ja ihre Unterſuchungen hatten bereits die Beziehungen zwiſchen Zahlen und Raumgrößen zum Gegen- ſtande, ſo entſtand ihnen die Idee des Irrationalen auf dem Ge- biete der Mathematik. Auch ihr Schema des Kosmos war aſtronomiſch: in der Mitte der Welt das Begrenzende, Ge- ſtaltende, welches ihnen im ſchönſten griechiſchen Geiſte das Gött- liche iſt; indem es das Grenzenloſe an ſich zieht, entſteht die zahlenmäßige Ordnung des Kosmos. Alle dieſe Erklärungen des Weltganzen, ob ſie gleich als Er- klärungen an der allmäligen Auflöſung des mythiſchen Vorſtellens arbeiteten, waren noch mit einem ſehr erheblichen Beſtand- theil von mythiſchem Glauben vermiſcht. Das Prinzip, aus welchem dieſe erſten Forſcher ableiteten, hatte noch viele Eigen- ſchaften des mythiſchen Zuſammenhangs. Es enthielt in ſich eine den mythiſchen Kräften verwandte Bildungskraft, Fähigkeit der Um- wandlung, Zweckmäßigkeit, gleichſam die Fußſpuren der Götter in ſeinem Wirken. So war es auch mit einem von dieſen Phyſikern feſtgehaltenen mythiſchen Götterglauben in für uns kaum ſichtbaren Wurzeln verſchlungen. Die Ueberzeugung des Thales, daß das Weltall von Gottheiten erfüllt ſei, darf nicht in einen modernen Pantheismus umgedeutet werden. Der mythiſche Glaube des Anaxi- mander läßt alle Dinge durch ihren Untergang für das Unrecht ihres Sonderdaſeins Buße und Strafe leiden, gemäß der Ordnung der Zeit. Keine andere Lehre kann dem Pythagoras ſo ſicher zu- geſchrieben werden, als die von der Seelenwanderung, und der von ihm geſtiftete Verband hing am Apollokultus und an religiöſen Riten mit konſervativer Feſtigkeit. Vorſtellungen des Vollkommnen beſtimmen das kosmiſche Bild der unteritaliſchen Schulen. Und zwar tritt hier der für den griechiſchen Geiſt ſo bezeichnende Gedanke hervor, daß das Begrenzte das Göttliche ſei — wogegen man den

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/207
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 184. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/207>, abgerufen am 24.11.2024.