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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Die älteste griech. Wissenschaft geht von der Orientirung im Weltraum aus.
Himmels sich wölbt. Geographische Kunde bestimmt die Aus-
dehnung dieses Erdkreises und die Vertheilung von Wasser und
Land auf demselben. Schon gemäß einer Anschauung der auf
der See heimischen Griechen homerischer Zeit wurde nun als die
Geburtsstätte von Allem das Wasser, das Meer angesehen. -- Hier
knüpfte Thales an. Der die Erdscheibe umfließende Okeanos
Homers dehnte sich in seiner Anschauung aus: auf dem Wasser
schwimmt diese Erdscheibe, aus ihm ist Alles hervorgetreten. Vor
Allem wurde das Werk der Orientirung in diesem kosmischen
Raume von Thales gefördert, und hier lag der wesenhafte Kern dessen,
was geschah. Anaximander setzte dieses Werk fort, entwarf eine
Erdtafel, führte den Gebrauch des Gnomon ein, welcher zu jener Zeit
das wichtigste Hilfsmittel der Astronomie war. Von dem Zustande
einer allgemeinen Fluth, in dessen Annahme er mit Thales überein-
stimmte, ging er auf ein zeitlich diesem Zustande vorausgehendes Un-
endliches zurück; aus ihm hat sich alles Bestimmte und Begrenzte
ausgeschieden, und, unvergänglich, umfaßt es dieses Alles räum-
lich und lenkt es. Und zwar hat er nach gutem Zeugniß dieses
Unendliche, Alllebendige, Unsterbliche als Prinzip 1) bezeichnet,
und so diesen dem metaphysischen Denken so wichtigen Ausdruck
(zunächst wol im Sinne von Anfang und Ursache) eingeführt.
Dieser Ausdruck bezeichnete, daß nunmehr das Erkennen seiner
Aufgabe sich bewußt war, und daher sich die Wissenschaft absonderte.

Die Phänomene der bewegten Atmosphäre enthalten auch für
die weiteren kosmologischen Versuche der jonischen Phy-
siker die Mittel der Erklärung. Wie in dieser feuchter Niederschlag,
Wärme, bewegte Luft miteinander verbunden sind, scheint für diese
primitiven Erklärungsversuche bald aus der Luft Alles hervor-
zutreten, bald aus dem Feuer, bald aus dem Wasser.

Auch die Wissenschaft der unteritalischen Kolonien, welche
in dem Verbande der Pythagoreer gepflegt wurde, hatte
ihren Ausgangspunkt, ihr wesenhaftes Interesse und ihre Be-

1) arkhe. Simplic. in phys. f. 6 r 36--54. -- Hippolyt. Refut. haer.
I, 6
. -- Auf Theophrast zurückgehend, vgl. Diels doxographi 133, 476;
Zeller I 4 203.

Die älteſte griech. Wiſſenſchaft geht von der Orientirung im Weltraum aus.
Himmels ſich wölbt. Geographiſche Kunde beſtimmt die Aus-
dehnung dieſes Erdkreiſes und die Vertheilung von Waſſer und
Land auf demſelben. Schon gemäß einer Anſchauung der auf
der See heimiſchen Griechen homeriſcher Zeit wurde nun als die
Geburtsſtätte von Allem das Waſſer, das Meer angeſehen. — Hier
knüpfte Thales an. Der die Erdſcheibe umfließende Okeanos
Homers dehnte ſich in ſeiner Anſchauung aus: auf dem Waſſer
ſchwimmt dieſe Erdſcheibe, aus ihm iſt Alles hervorgetreten. Vor
Allem wurde das Werk der Orientirung in dieſem kosmiſchen
Raume von Thales gefördert, und hier lag der weſenhafte Kern deſſen,
was geſchah. Anaximander ſetzte dieſes Werk fort, entwarf eine
Erdtafel, führte den Gebrauch des Gnomon ein, welcher zu jener Zeit
das wichtigſte Hilfsmittel der Aſtronomie war. Von dem Zuſtande
einer allgemeinen Fluth, in deſſen Annahme er mit Thales überein-
ſtimmte, ging er auf ein zeitlich dieſem Zuſtande vorausgehendes Un-
endliches zurück; aus ihm hat ſich alles Beſtimmte und Begrenzte
ausgeſchieden, und, unvergänglich, umfaßt es dieſes Alles räum-
lich und lenkt es. Und zwar hat er nach gutem Zeugniß dieſes
Unendliche, Alllebendige, Unſterbliche als Prinzip 1) bezeichnet,
und ſo dieſen dem metaphyſiſchen Denken ſo wichtigen Ausdruck
(zunächſt wol im Sinne von Anfang und Urſache) eingeführt.
Dieſer Ausdruck bezeichnete, daß nunmehr das Erkennen ſeiner
Aufgabe ſich bewußt war, und daher ſich die Wiſſenſchaft abſonderte.

Die Phänomene der bewegten Atmoſphäre enthalten auch für
die weiteren kosmologiſchen Verſuche der joniſchen Phy-
ſiker die Mittel der Erklärung. Wie in dieſer feuchter Niederſchlag,
Wärme, bewegte Luft miteinander verbunden ſind, ſcheint für dieſe
primitiven Erklärungsverſuche bald aus der Luft Alles hervor-
zutreten, bald aus dem Feuer, bald aus dem Waſſer.

Auch die Wiſſenſchaft der unteritaliſchen Kolonien, welche
in dem Verbande der Pythagoreer gepflegt wurde, hatte
ihren Ausgangspunkt, ihr weſenhaftes Intereſſe und ihre Be-

1) ἀϱχή. Simplic. in phys. f. 6 r 36—54. — Hippolyt. Refut. haer.
I, 6
. — Auf Theophraſt zurückgehend, vgl. Diels doxographi 133, 476;
Zeller I 4 203.
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[183/0206] Die älteſte griech. Wiſſenſchaft geht von der Orientirung im Weltraum aus. Himmels ſich wölbt. Geographiſche Kunde beſtimmt die Aus- dehnung dieſes Erdkreiſes und die Vertheilung von Waſſer und Land auf demſelben. Schon gemäß einer Anſchauung der auf der See heimiſchen Griechen homeriſcher Zeit wurde nun als die Geburtsſtätte von Allem das Waſſer, das Meer angeſehen. — Hier knüpfte Thales an. Der die Erdſcheibe umfließende Okeanos Homers dehnte ſich in ſeiner Anſchauung aus: auf dem Waſſer ſchwimmt dieſe Erdſcheibe, aus ihm iſt Alles hervorgetreten. Vor Allem wurde das Werk der Orientirung in dieſem kosmiſchen Raume von Thales gefördert, und hier lag der weſenhafte Kern deſſen, was geſchah. Anaximander ſetzte dieſes Werk fort, entwarf eine Erdtafel, führte den Gebrauch des Gnomon ein, welcher zu jener Zeit das wichtigſte Hilfsmittel der Aſtronomie war. Von dem Zuſtande einer allgemeinen Fluth, in deſſen Annahme er mit Thales überein- ſtimmte, ging er auf ein zeitlich dieſem Zuſtande vorausgehendes Un- endliches zurück; aus ihm hat ſich alles Beſtimmte und Begrenzte ausgeſchieden, und, unvergänglich, umfaßt es dieſes Alles räum- lich und lenkt es. Und zwar hat er nach gutem Zeugniß dieſes Unendliche, Alllebendige, Unſterbliche als Prinzip 1) bezeichnet, und ſo dieſen dem metaphyſiſchen Denken ſo wichtigen Ausdruck (zunächſt wol im Sinne von Anfang und Urſache) eingeführt. Dieſer Ausdruck bezeichnete, daß nunmehr das Erkennen ſeiner Aufgabe ſich bewußt war, und daher ſich die Wiſſenſchaft abſonderte. Die Phänomene der bewegten Atmoſphäre enthalten auch für die weiteren kosmologiſchen Verſuche der joniſchen Phy- ſiker die Mittel der Erklärung. Wie in dieſer feuchter Niederſchlag, Wärme, bewegte Luft miteinander verbunden ſind, ſcheint für dieſe primitiven Erklärungsverſuche bald aus der Luft Alles hervor- zutreten, bald aus dem Feuer, bald aus dem Waſſer. Auch die Wiſſenſchaft der unteritaliſchen Kolonien, welche in dem Verbande der Pythagoreer gepflegt wurde, hatte ihren Ausgangspunkt, ihr weſenhaftes Intereſſe und ihre Be- 1) ἀϱχή. Simplic. in phys. f. 6 r 36—54. — Hippolyt. Refut. haer. I, 6. — Auf Theophraſt zurückgehend, vgl. Diels doxographi 133, 476; Zeller I 4 203.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/206>, abgerufen am 24.11.2024.