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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Erster Abschnitt.
innerhalb desselben einen immer anwachsenden Kreis von
Thatsachen
ihrer Herrschaft, d. h. der Einwirkung, der Vor-
aussage sowie der Einsicht in die Nothwendigkeit des Zu-
sammenhangs. Und sie benutzte hierbei den Erwerb von Völkern
älterer Kultur, mit welchen die Griechen in Verbindung standen.
Die Frage ist transscendent, ob es je eine Zeit gab, in welcher
nicht in irgend einem Umfange, irgend einer Gestalt die Abson-
derung eines Bezirks von Erfahrung von dem des mythischen
Vorstellens stattfand. Aber der Fortschritt ist eine feststellbare That-
sache, welcher in dem weiteren Verlauf des mythischen Vorstellens
sichtbar ist und einerseits die Wissenschaft vorbereitete, andrerseits
die mythische Welt in ihrem Inneren umgestaltete: die lebendigen
Kräfte, welche der affektiv bewegte Mensch als die Hand des Un-
endlichen auf ihm empfand, fürchtete, liebte, wurden immer mehr
an den Horizont des sich erweiternden Umkreises von natürlichem
Geschehen gedrängt; von wo sie sich in das Dunkel verloren.

Schon in der homerischen Dichtung finden wir die mythische
Welt im Zurückweichen begriffen. Die göttlichen Gewalten bilden
eine Ordnung für sich, einen göttlichen Familienzusammenhang
mit staatlichem Gefüge der Willensverhältnisse; ihre eigentlichen
Sitze sind von dem Bezirk der gewöhnlichen Arbeit eines da-
maligen Griechen in Ackerbau, Industrie und Handel getrennt;
sie verweilen nur zeitweilig in diesem Bezirk, vornemlich in vor-
übergehendem Besuch in ihren Tempeln, und ihre Einwirkung auf
das dem Erfahren und dem Gedanken unterworfene Gebiet wird
zum supranaturalen Eingriff. Auch werden keine Vermählungen
zwischen den olympischen Göttern und den Menschen mehr aus
der Zeit der troischen und nachtroischen Ereignisse in den homerischen
Dichtungen berichtet. Ja es findet sich in diesen Dichtungen ein
bestimmtes Bewußtsein über die Abnahme des Verkehrs zwischen
Göttern und Menschen. So breitete die fortschreitende Aufklärung
den Umkreis, den die natürliche Erklärung beherrscht, immer
weiter aus und machte die Geister immer mehr skeptisch gegenüber
der Annahme von supranaturalen Eingriffen.

Und zwar steht dieser Fortgang in Zusammenhang mit einer

Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.
innerhalb deſſelben einen immer anwachſenden Kreis von
Thatſachen
ihrer Herrſchaft, d. h. der Einwirkung, der Vor-
ausſage ſowie der Einſicht in die Nothwendigkeit des Zu-
ſammenhangs. Und ſie benutzte hierbei den Erwerb von Völkern
älterer Kultur, mit welchen die Griechen in Verbindung ſtanden.
Die Frage iſt transſcendent, ob es je eine Zeit gab, in welcher
nicht in irgend einem Umfange, irgend einer Geſtalt die Abſon-
derung eines Bezirks von Erfahrung von dem des mythiſchen
Vorſtellens ſtattfand. Aber der Fortſchritt iſt eine feſtſtellbare That-
ſache, welcher in dem weiteren Verlauf des mythiſchen Vorſtellens
ſichtbar iſt und einerſeits die Wiſſenſchaft vorbereitete, andrerſeits
die mythiſche Welt in ihrem Inneren umgeſtaltete: die lebendigen
Kräfte, welche der affektiv bewegte Menſch als die Hand des Un-
endlichen auf ihm empfand, fürchtete, liebte, wurden immer mehr
an den Horizont des ſich erweiternden Umkreiſes von natürlichem
Geſchehen gedrängt; von wo ſie ſich in das Dunkel verloren.

Schon in der homeriſchen Dichtung finden wir die mythiſche
Welt im Zurückweichen begriffen. Die göttlichen Gewalten bilden
eine Ordnung für ſich, einen göttlichen Familienzuſammenhang
mit ſtaatlichem Gefüge der Willensverhältniſſe; ihre eigentlichen
Sitze ſind von dem Bezirk der gewöhnlichen Arbeit eines da-
maligen Griechen in Ackerbau, Induſtrie und Handel getrennt;
ſie verweilen nur zeitweilig in dieſem Bezirk, vornemlich in vor-
übergehendem Beſuch in ihren Tempeln, und ihre Einwirkung auf
das dem Erfahren und dem Gedanken unterworfene Gebiet wird
zum ſupranaturalen Eingriff. Auch werden keine Vermählungen
zwiſchen den olympiſchen Göttern und den Menſchen mehr aus
der Zeit der troiſchen und nachtroiſchen Ereigniſſe in den homeriſchen
Dichtungen berichtet. Ja es findet ſich in dieſen Dichtungen ein
beſtimmtes Bewußtſein über die Abnahme des Verkehrs zwiſchen
Göttern und Menſchen. So breitete die fortſchreitende Aufklärung
den Umkreis, den die natürliche Erklärung beherrſcht, immer
weiter aus und machte die Geiſter immer mehr ſkeptiſch gegenüber
der Annahme von ſupranaturalen Eingriffen.

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[178/0201] Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. innerhalb deſſelben einen immer anwachſenden Kreis von Thatſachen ihrer Herrſchaft, d. h. der Einwirkung, der Vor- ausſage ſowie der Einſicht in die Nothwendigkeit des Zu- ſammenhangs. Und ſie benutzte hierbei den Erwerb von Völkern älterer Kultur, mit welchen die Griechen in Verbindung ſtanden. Die Frage iſt transſcendent, ob es je eine Zeit gab, in welcher nicht in irgend einem Umfange, irgend einer Geſtalt die Abſon- derung eines Bezirks von Erfahrung von dem des mythiſchen Vorſtellens ſtattfand. Aber der Fortſchritt iſt eine feſtſtellbare That- ſache, welcher in dem weiteren Verlauf des mythiſchen Vorſtellens ſichtbar iſt und einerſeits die Wiſſenſchaft vorbereitete, andrerſeits die mythiſche Welt in ihrem Inneren umgeſtaltete: die lebendigen Kräfte, welche der affektiv bewegte Menſch als die Hand des Un- endlichen auf ihm empfand, fürchtete, liebte, wurden immer mehr an den Horizont des ſich erweiternden Umkreiſes von natürlichem Geſchehen gedrängt; von wo ſie ſich in das Dunkel verloren. Schon in der homeriſchen Dichtung finden wir die mythiſche Welt im Zurückweichen begriffen. Die göttlichen Gewalten bilden eine Ordnung für ſich, einen göttlichen Familienzuſammenhang mit ſtaatlichem Gefüge der Willensverhältniſſe; ihre eigentlichen Sitze ſind von dem Bezirk der gewöhnlichen Arbeit eines da- maligen Griechen in Ackerbau, Induſtrie und Handel getrennt; ſie verweilen nur zeitweilig in dieſem Bezirk, vornemlich in vor- übergehendem Beſuch in ihren Tempeln, und ihre Einwirkung auf das dem Erfahren und dem Gedanken unterworfene Gebiet wird zum ſupranaturalen Eingriff. Auch werden keine Vermählungen zwiſchen den olympiſchen Göttern und den Menſchen mehr aus der Zeit der troiſchen und nachtroiſchen Ereigniſſe in den homeriſchen Dichtungen berichtet. Ja es findet ſich in dieſen Dichtungen ein beſtimmtes Bewußtſein über die Abnahme des Verkehrs zwiſchen Göttern und Menſchen. So breitete die fortſchreitende Aufklärung den Umkreis, den die natürliche Erklärung beherrſcht, immer weiter aus und machte die Geiſter immer mehr ſkeptiſch gegenüber der Annahme von ſupranaturalen Eingriffen. Und zwar ſteht dieſer Fortgang in Zuſammenhang mit einer

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/201>, abgerufen am 23.11.2024.