Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Relative Selbständigkeit des Mythus gegenüber der Religion.
Natur sowohl als der Gesellschaft in Zusammenhang zu bringen
und eine erste Art von Erklärung derselben zu geben. Hier tritt
uns die älteste Form des allgemeinen Verhältnisses entgegen, in
welchem der religiöse Untergrund der intellektuellen Entwicklung
Europas zu der in ihr wirksamen Richtung auf eine zusammen-
hängende Verknüpfung und Erklärung der Phänomene steht. Die
Art der Erklärung ist höchst unvollkommen; der Zusammenhang
der Phänomene wird als ein Willenszusammenhang, ein In-
einandergreifen lebendiger Regungen und Handlungen erfahren
und angeschaut. Sie vermochte daher nur eine abgegrenzte Zeit
hindurch die intellektuelle Entwicklung dieser jugendstarken Stämme
in sich zu fassen: alsdann zersprengte die Richtung auf Erklärung
die unvollkommene Hülle.



Viertes Kapitel.
Die Entstehung der Wissenschaft in Europa.

Der geschichtliche Verlauf, in welchem dies geschah, in welchem
aus mythischem Vorstellen die wissenschaftliche Erklärung des
Kosmos entstand, ist uns nach seinem ursächlichen Zusammenhang
nur sehr unvollkommen bekannt. Mindestens über drei Jahrhunderte
liegen zwischen den homerischen Gedichten, nach den Ansätzen der
namhaftesten Forscher der alexandrinischen Zeit, und der Ge-
burt des ersten, welcher nach der Ueberlieferung eine wissen-
schaftliche Erklärung der Welt versuchte: des Thales. Ein Zeit-
genosse des Solon, lebte er in der zweiten Hälfte des siebenten
Jahrhunderts und in der ersten Zeit des sechsten vor Christus.
In diesem langen und dunklen Zeitraum von den homerischen
Gedichten bis auf Thales schritt, soviel können wir urtheilen, die
Entwicklung des aufklärenden Geistes in zwei Rich-
tungen
voran.

Die Erfahrung, welche in den Aufgaben des Lebens, ins-
besondere der Industrie und dem Handel erwuchs, unterwarf einen
immer zunehmenden, räumlichen Bezirk der Erde und

Dilthey, Einleitung. 12

Relative Selbſtändigkeit des Mythus gegenüber der Religion.
Natur ſowohl als der Geſellſchaft in Zuſammenhang zu bringen
und eine erſte Art von Erklärung derſelben zu geben. Hier tritt
uns die älteſte Form des allgemeinen Verhältniſſes entgegen, in
welchem der religiöſe Untergrund der intellektuellen Entwicklung
Europas zu der in ihr wirkſamen Richtung auf eine zuſammen-
hängende Verknüpfung und Erklärung der Phänomene ſteht. Die
Art der Erklärung iſt höchſt unvollkommen; der Zuſammenhang
der Phänomene wird als ein Willenszuſammenhang, ein In-
einandergreifen lebendiger Regungen und Handlungen erfahren
und angeſchaut. Sie vermochte daher nur eine abgegrenzte Zeit
hindurch die intellektuelle Entwicklung dieſer jugendſtarken Stämme
in ſich zu faſſen: alsdann zerſprengte die Richtung auf Erklärung
die unvollkommene Hülle.



Viertes Kapitel.
Die Entſtehung der Wiſſenſchaft in Europa.

Der geſchichtliche Verlauf, in welchem dies geſchah, in welchem
aus mythiſchem Vorſtellen die wiſſenſchaftliche Erklärung des
Kosmos entſtand, iſt uns nach ſeinem urſächlichen Zuſammenhang
nur ſehr unvollkommen bekannt. Mindeſtens über drei Jahrhunderte
liegen zwiſchen den homeriſchen Gedichten, nach den Anſätzen der
namhafteſten Forſcher der alexandriniſchen Zeit, und der Ge-
burt des erſten, welcher nach der Ueberlieferung eine wiſſen-
ſchaftliche Erklärung der Welt verſuchte: des Thales. Ein Zeit-
genoſſe des Solon, lebte er in der zweiten Hälfte des ſiebenten
Jahrhunderts und in der erſten Zeit des ſechſten vor Chriſtus.
In dieſem langen und dunklen Zeitraum von den homeriſchen
Gedichten bis auf Thales ſchritt, ſoviel können wir urtheilen, die
Entwicklung des aufklärenden Geiſtes in zwei Rich-
tungen
voran.

Die Erfahrung, welche in den Aufgaben des Lebens, ins-
beſondere der Induſtrie und dem Handel erwuchs, unterwarf einen
immer zunehmenden, räumlichen Bezirk der Erde und

Dilthey, Einleitung. 12
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0200" n="177"/><fw place="top" type="header">Relative Selb&#x017F;tändigkeit des Mythus gegenüber der Religion.</fw><lb/>
Natur &#x017F;owohl als der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft in Zu&#x017F;ammenhang zu bringen<lb/>
und eine er&#x017F;te Art von Erklärung der&#x017F;elben zu geben. Hier tritt<lb/>
uns die älte&#x017F;te Form des allgemeinen Verhältni&#x017F;&#x017F;es entgegen, in<lb/>
welchem der religiö&#x017F;e Untergrund der intellektuellen Entwicklung<lb/>
Europas zu der in ihr wirk&#x017F;amen Richtung auf eine zu&#x017F;ammen-<lb/>
hängende Verknüpfung und Erklärung der Phänomene &#x017F;teht. Die<lb/>
Art der Erklärung i&#x017F;t höch&#x017F;t unvollkommen; der Zu&#x017F;ammenhang<lb/>
der Phänomene wird als ein Willenszu&#x017F;ammenhang, ein In-<lb/>
einandergreifen lebendiger Regungen und Handlungen erfahren<lb/>
und ange&#x017F;chaut. Sie vermochte daher nur eine abgegrenzte Zeit<lb/>
hindurch die intellektuelle Entwicklung die&#x017F;er jugend&#x017F;tarken Stämme<lb/>
in &#x017F;ich zu fa&#x017F;&#x017F;en: alsdann zer&#x017F;prengte die Richtung auf Erklärung<lb/>
die unvollkommene Hülle.</p>
          </div><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <div n="3">
            <head><hi rendition="#g">Viertes Kapitel</hi>.<lb/><hi rendition="#b">Die Ent&#x017F;tehung der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft in Europa.</hi></head><lb/>
            <p>Der ge&#x017F;chichtliche Verlauf, in welchem dies ge&#x017F;chah, in welchem<lb/>
aus mythi&#x017F;chem Vor&#x017F;tellen die wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftliche Erklärung des<lb/>
Kosmos ent&#x017F;tand, i&#x017F;t uns nach &#x017F;einem ur&#x017F;ächlichen Zu&#x017F;ammenhang<lb/>
nur &#x017F;ehr unvollkommen bekannt. Minde&#x017F;tens über drei Jahrhunderte<lb/>
liegen zwi&#x017F;chen den homeri&#x017F;chen Gedichten, nach den An&#x017F;ätzen der<lb/>
namhafte&#x017F;ten For&#x017F;cher der alexandrini&#x017F;chen Zeit, und der Ge-<lb/>
burt des er&#x017F;ten, welcher nach der Ueberlieferung eine wi&#x017F;&#x017F;en-<lb/>
&#x017F;chaftliche Erklärung der Welt ver&#x017F;uchte: des Thales. Ein Zeit-<lb/>
geno&#x017F;&#x017F;e des Solon, lebte er in der zweiten Hälfte des &#x017F;iebenten<lb/>
Jahrhunderts und in der er&#x017F;ten Zeit des &#x017F;ech&#x017F;ten vor Chri&#x017F;tus.<lb/>
In die&#x017F;em langen und dunklen Zeitraum von den homeri&#x017F;chen<lb/>
Gedichten bis auf Thales &#x017F;chritt, &#x017F;oviel können wir urtheilen, die<lb/><hi rendition="#g">Entwicklung des aufklärenden Gei&#x017F;tes in zwei Rich-<lb/>
tungen</hi> voran.</p><lb/>
            <p>Die <hi rendition="#g">Erfahrung</hi>, welche in den Aufgaben des Lebens, ins-<lb/>
be&#x017F;ondere der Indu&#x017F;trie und dem Handel erwuchs, unterwarf einen<lb/><hi rendition="#g">immer zunehmenden, räumlichen Bezirk</hi> der Erde und<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Dilthey</hi>, Einleitung. 12</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[177/0200] Relative Selbſtändigkeit des Mythus gegenüber der Religion. Natur ſowohl als der Geſellſchaft in Zuſammenhang zu bringen und eine erſte Art von Erklärung derſelben zu geben. Hier tritt uns die älteſte Form des allgemeinen Verhältniſſes entgegen, in welchem der religiöſe Untergrund der intellektuellen Entwicklung Europas zu der in ihr wirkſamen Richtung auf eine zuſammen- hängende Verknüpfung und Erklärung der Phänomene ſteht. Die Art der Erklärung iſt höchſt unvollkommen; der Zuſammenhang der Phänomene wird als ein Willenszuſammenhang, ein In- einandergreifen lebendiger Regungen und Handlungen erfahren und angeſchaut. Sie vermochte daher nur eine abgegrenzte Zeit hindurch die intellektuelle Entwicklung dieſer jugendſtarken Stämme in ſich zu faſſen: alsdann zerſprengte die Richtung auf Erklärung die unvollkommene Hülle. Viertes Kapitel. Die Entſtehung der Wiſſenſchaft in Europa. Der geſchichtliche Verlauf, in welchem dies geſchah, in welchem aus mythiſchem Vorſtellen die wiſſenſchaftliche Erklärung des Kosmos entſtand, iſt uns nach ſeinem urſächlichen Zuſammenhang nur ſehr unvollkommen bekannt. Mindeſtens über drei Jahrhunderte liegen zwiſchen den homeriſchen Gedichten, nach den Anſätzen der namhafteſten Forſcher der alexandriniſchen Zeit, und der Ge- burt des erſten, welcher nach der Ueberlieferung eine wiſſen- ſchaftliche Erklärung der Welt verſuchte: des Thales. Ein Zeit- genoſſe des Solon, lebte er in der zweiten Hälfte des ſiebenten Jahrhunderts und in der erſten Zeit des ſechſten vor Chriſtus. In dieſem langen und dunklen Zeitraum von den homeriſchen Gedichten bis auf Thales ſchritt, ſoviel können wir urtheilen, die Entwicklung des aufklärenden Geiſtes in zwei Rich- tungen voran. Die Erfahrung, welche in den Aufgaben des Lebens, ins- beſondere der Induſtrie und dem Handel erwuchs, unterwarf einen immer zunehmenden, räumlichen Bezirk der Erde und Dilthey, Einleitung. 12

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/200
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/200>, abgerufen am 22.11.2024.