Zwei Richtungen des über den Mythus hinausschreitenden Geistes.
Veränderung des Lebensgefühls. Die Lebensordnung des heroischen Königthums verfiel, die epische Dichtung, die ihr Ausdruck ge- wesen war, erstarrte. Das Lebensgefühl, welches den veränderten politischen und socialen Ordnungen entsprach, verkündete sich in der Elegie und dem Jambus mit freier Macht: das bewegte Innere der Person wurde zum Mittelpunkt des Interesses. In der lyrischen Dichtung sind, wenigstens aus der Zeit des Thales, so- gar Spuren, welche das Vertrauen auf die Götter zurücktretend hinter diesem selbständigen Lebensgefühl zeigen 1). Und an die Blüthe der Gefühlsdichtung schloß sich die Sittenbetrachtung, in welcher der Geist den Bezirk der sittlichen Erfahrungen sich unterwarf.
Die andere Richtung, in welcher der erklärende Geist voranschritt, ist noch in den Ueberresten der Litteratur von Theo- gonien sichtbar. Die uns erhaltene Theogonie des Hesiod, unter ihnen die wichtigste, lag, mindestens in ihrem Kern, schon den ersten Philosophen vor. Die erklärende Richtung gestaltete in diesen Theogonien aus dem Stoff des mythischen Vorstellungs- kreises einen inneren, durch Zeugungen voranschreitenden Zu- sammenhang des Weltprozesses. Und zwar spielt sich dieser Welt- prozeß weder als eine bloße Beziehung von Willensgewalten noch als ein aus allgemeinen Naturvorstellungen geknüpfter Zusammen- hang ab. Nacht, Himmel, Erde, Eros sind Vorstellungen, welche zwischen Naturthatsache und persönlicher Macht in dämmern- dem Zwielicht stehen. Aus dem Persönlichen wanden allgemeine Vorstellungen von einem natürlichen Zusammenhang sich los.
Diese beiden Richtungen des Geistes zerstörten den Zusammenhang der Welt, welchen das mythische Denken entworfen hatte. Das Andere, welches wir unserem Selbst als Natur gegenüberstellen, empfängt seinen lebendigen Zusammenhang aus dem Selbstbewußtsein, in welchem es da ist. Dieser Zusammen- hang wird in voller Lebendigkeit von dem mythischen Denken erfaßt, aber vor dem Gedanken hält seine Wahrheit nicht Stand;
1)Mimnermus fragm. 2. Bergk II 4, 26.
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Zwei Richtungen des über den Mythus hinausſchreitenden Geiſtes.
Veränderung des Lebensgefühls. Die Lebensordnung des heroiſchen Königthums verfiel, die epiſche Dichtung, die ihr Ausdruck ge- weſen war, erſtarrte. Das Lebensgefühl, welches den veränderten politiſchen und ſocialen Ordnungen entſprach, verkündete ſich in der Elegie und dem Jambus mit freier Macht: das bewegte Innere der Perſon wurde zum Mittelpunkt des Intereſſes. In der lyriſchen Dichtung ſind, wenigſtens aus der Zeit des Thales, ſo- gar Spuren, welche das Vertrauen auf die Götter zurücktretend hinter dieſem ſelbſtändigen Lebensgefühl zeigen 1). Und an die Blüthe der Gefühlsdichtung ſchloß ſich die Sittenbetrachtung, in welcher der Geiſt den Bezirk der ſittlichen Erfahrungen ſich unterwarf.
Die andere Richtung, in welcher der erklärende Geiſt voranſchritt, iſt noch in den Ueberreſten der Litteratur von Theo- gonien ſichtbar. Die uns erhaltene Theogonie des Heſiod, unter ihnen die wichtigſte, lag, mindeſtens in ihrem Kern, ſchon den erſten Philoſophen vor. Die erklärende Richtung geſtaltete in dieſen Theogonien aus dem Stoff des mythiſchen Vorſtellungs- kreiſes einen inneren, durch Zeugungen voranſchreitenden Zu- ſammenhang des Weltprozeſſes. Und zwar ſpielt ſich dieſer Welt- prozeß weder als eine bloße Beziehung von Willensgewalten noch als ein aus allgemeinen Naturvorſtellungen geknüpfter Zuſammen- hang ab. Nacht, Himmel, Erde, Eros ſind Vorſtellungen, welche zwiſchen Naturthatſache und perſönlicher Macht in dämmern- dem Zwielicht ſtehen. Aus dem Perſönlichen wanden allgemeine Vorſtellungen von einem natürlichen Zuſammenhang ſich los.
Dieſe beiden Richtungen des Geiſtes zerſtörten den Zuſammenhang der Welt, welchen das mythiſche Denken entworfen hatte. Das Andere, welches wir unſerem Selbſt als Natur gegenüberſtellen, empfängt ſeinen lebendigen Zuſammenhang aus dem Selbſtbewußtſein, in welchem es da iſt. Dieſer Zuſammen- hang wird in voller Lebendigkeit von dem mythiſchen Denken erfaßt, aber vor dem Gedanken hält ſeine Wahrheit nicht Stand;
1)Mimnermus fragm. 2. Bergk II 4, 26.
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Zwei Richtungen des über den Mythus hinausſchreitenden Geiſtes.
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Königthums verfiel, die epiſche Dichtung, die ihr Ausdruck ge-
weſen war, erſtarrte. Das Lebensgefühl, welches den veränderten
politiſchen und ſocialen Ordnungen entſprach, verkündete ſich in
der Elegie und dem Jambus mit freier Macht: das bewegte Innere
der Perſon wurde zum Mittelpunkt des Intereſſes. In der
lyriſchen Dichtung ſind, wenigſtens aus der Zeit des Thales, ſo-
gar Spuren, welche das Vertrauen auf die Götter zurücktretend
hinter dieſem ſelbſtändigen Lebensgefühl zeigen 1). Und an die
Blüthe der Gefühlsdichtung ſchloß ſich die Sittenbetrachtung, in
welcher der Geiſt den Bezirk der ſittlichen Erfahrungen ſich
unterwarf.
Die andere Richtung, in welcher der erklärende Geiſt
voranſchritt, iſt noch in den Ueberreſten der Litteratur von Theo-
gonien ſichtbar. Die uns erhaltene Theogonie des Heſiod,
unter ihnen die wichtigſte, lag, mindeſtens in ihrem Kern, ſchon
den erſten Philoſophen vor. Die erklärende Richtung geſtaltete
in dieſen Theogonien aus dem Stoff des mythiſchen Vorſtellungs-
kreiſes einen inneren, durch Zeugungen voranſchreitenden Zu-
ſammenhang des Weltprozeſſes. Und zwar ſpielt ſich dieſer Welt-
prozeß weder als eine bloße Beziehung von Willensgewalten noch
als ein aus allgemeinen Naturvorſtellungen geknüpfter Zuſammen-
hang ab. Nacht, Himmel, Erde, Eros ſind Vorſtellungen,
welche zwiſchen Naturthatſache und perſönlicher Macht in dämmern-
dem Zwielicht ſtehen. Aus dem Perſönlichen wanden allgemeine
Vorſtellungen von einem natürlichen Zuſammenhang ſich los.
Dieſe beiden Richtungen des Geiſtes zerſtörten den
Zuſammenhang der Welt, welchen das mythiſche Denken
entworfen hatte. Das Andere, welches wir unſerem Selbſt als Natur
gegenüberſtellen, empfängt ſeinen lebendigen Zuſammenhang aus
dem Selbſtbewußtſein, in welchem es da iſt. Dieſer Zuſammen-
hang wird in voller Lebendigkeit von dem mythiſchen Denken
erfaßt, aber vor dem Gedanken hält ſeine Wahrheit nicht Stand;
1) Mimnermus fragm. 2. Bergk II 4, 26.
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/202>, abgerufen am 16.02.2025.
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