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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Erster Abschnitt.
Zwar ruht der reale Zusammenhang von Phänomenen, welchen es
gestaltet, auf dem religiösen Leben: dieses ist in ihm die alles
Sichtbare überschreitende Lebensmacht. Aber dieser Zusammenhang
ist nicht in der religiösen Erfahrung allein gegründet. Er ist eben-
so bedingt durch die Art, wie den Menschen jener Tage die Wirk-
lichkeit gegeben ist. Diese ist für sie als Leben da, bleibt ihnen
Leben, wird nicht durch Erkennen zu einem Objekt des Verstandes.
Daher ist sie an allen Punkten Wille, Fakticität, Geschichte, d. h.
lebendige ursprüngliche Realität. Da sie für den ganzen leben-
digen Menschen da ist und noch keiner verstandesmäßigen Ana-
lysis und Abstraktion, sonach Verdünnung unterworfen wird:
so ist sie entsprechend selber Leben. Und wie solchergestalt der
Zusammenhang, welchen das mythische Vorstellen bildet, nicht allein
aus dem religiösen Leben entspringt, so kann auch der Inhalt
des letzteren nie ganz in der Vorstellungsform der Mythen sich
erschöpfen. Leben geht nie in Vorstellung auf. Das religiöse
Erlebniß bleibt vielmehr das ewig Innere; in keinem Mythos und
keiner Vorstellung eines Gottes findet es daher einen adäquaten
Ausdruck. Wie denn dasselbe Verhältniß auf einer höheren Stufe
zwischen der Religion und der Metaphysik stattfindet.

So hat die Mythensprache für die vorwissenschaftliche Zeit z. B.
der griechischen Stämme eine über den Ausdruck des
religiösen Lebens hinausreichende Bedeutung
. Die
Grundmythen der indogermanischen Völker, wie sie die vergleichende
Mythologie festzustellen bemüht ist, gleichen hierin den Wurzeln ihrer
Sprachen, daß sie relativ selbständige Mittel des Ausdrucks sind,
welche sich in dem Wechsel der religiösen Zustände als konstante Dar-
stellungsmittel erhalten. Sie dauern in immer neuen Metamor-
phosen (deren Gesetze aus denen der Phantasie fließen), welchen Wechsel
auch die Vorstellungen von den Göttern und das ihnen zu Grunde
liegende religiöse Bewußtsein erfahren. Sie walten so selbständig
in der Phantasie dieser Völker, daß sie in derselben nicht erlöschen,
auch wenn der Glaube erlischt, der in ihnen sich ausdrückte.

Sie dienen in relativer Selbständigkeit einem über das reli-
giöse Bewußtsein hinausreichenden Bedürfniß, die Phänomene der

Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.
Zwar ruht der reale Zuſammenhang von Phänomenen, welchen es
geſtaltet, auf dem religiöſen Leben: dieſes iſt in ihm die alles
Sichtbare überſchreitende Lebensmacht. Aber dieſer Zuſammenhang
iſt nicht in der religiöſen Erfahrung allein gegründet. Er iſt eben-
ſo bedingt durch die Art, wie den Menſchen jener Tage die Wirk-
lichkeit gegeben iſt. Dieſe iſt für ſie als Leben da, bleibt ihnen
Leben, wird nicht durch Erkennen zu einem Objekt des Verſtandes.
Daher iſt ſie an allen Punkten Wille, Fakticität, Geſchichte, d. h.
lebendige urſprüngliche Realität. Da ſie für den ganzen leben-
digen Menſchen da iſt und noch keiner verſtandesmäßigen Ana-
lyſis und Abſtraktion, ſonach Verdünnung unterworfen wird:
ſo iſt ſie entſprechend ſelber Leben. Und wie ſolchergeſtalt der
Zuſammenhang, welchen das mythiſche Vorſtellen bildet, nicht allein
aus dem religiöſen Leben entſpringt, ſo kann auch der Inhalt
des letzteren nie ganz in der Vorſtellungsform der Mythen ſich
erſchöpfen. Leben geht nie in Vorſtellung auf. Das religiöſe
Erlebniß bleibt vielmehr das ewig Innere; in keinem Mythos und
keiner Vorſtellung eines Gottes findet es daher einen adäquaten
Ausdruck. Wie denn daſſelbe Verhältniß auf einer höheren Stufe
zwiſchen der Religion und der Metaphyſik ſtattfindet.

So hat die Mythenſprache für die vorwiſſenſchaftliche Zeit z. B.
der griechiſchen Stämme eine über den Ausdruck des
religiöſen Lebens hinausreichende Bedeutung
. Die
Grundmythen der indogermaniſchen Völker, wie ſie die vergleichende
Mythologie feſtzuſtellen bemüht iſt, gleichen hierin den Wurzeln ihrer
Sprachen, daß ſie relativ ſelbſtändige Mittel des Ausdrucks ſind,
welche ſich in dem Wechſel der religiöſen Zuſtände als konſtante Dar-
ſtellungsmittel erhalten. Sie dauern in immer neuen Metamor-
phoſen (deren Geſetze aus denen der Phantaſie fließen), welchen Wechſel
auch die Vorſtellungen von den Göttern und das ihnen zu Grunde
liegende religiöſe Bewußtſein erfahren. Sie walten ſo ſelbſtändig
in der Phantaſie dieſer Völker, daß ſie in derſelben nicht erlöſchen,
auch wenn der Glaube erliſcht, der in ihnen ſich ausdrückte.

Sie dienen in relativer Selbſtändigkeit einem über das reli-
giöſe Bewußtſein hinausreichenden Bedürfniß, die Phänomene der

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[176/0199] Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. Zwar ruht der reale Zuſammenhang von Phänomenen, welchen es geſtaltet, auf dem religiöſen Leben: dieſes iſt in ihm die alles Sichtbare überſchreitende Lebensmacht. Aber dieſer Zuſammenhang iſt nicht in der religiöſen Erfahrung allein gegründet. Er iſt eben- ſo bedingt durch die Art, wie den Menſchen jener Tage die Wirk- lichkeit gegeben iſt. Dieſe iſt für ſie als Leben da, bleibt ihnen Leben, wird nicht durch Erkennen zu einem Objekt des Verſtandes. Daher iſt ſie an allen Punkten Wille, Fakticität, Geſchichte, d. h. lebendige urſprüngliche Realität. Da ſie für den ganzen leben- digen Menſchen da iſt und noch keiner verſtandesmäßigen Ana- lyſis und Abſtraktion, ſonach Verdünnung unterworfen wird: ſo iſt ſie entſprechend ſelber Leben. Und wie ſolchergeſtalt der Zuſammenhang, welchen das mythiſche Vorſtellen bildet, nicht allein aus dem religiöſen Leben entſpringt, ſo kann auch der Inhalt des letzteren nie ganz in der Vorſtellungsform der Mythen ſich erſchöpfen. Leben geht nie in Vorſtellung auf. Das religiöſe Erlebniß bleibt vielmehr das ewig Innere; in keinem Mythos und keiner Vorſtellung eines Gottes findet es daher einen adäquaten Ausdruck. Wie denn daſſelbe Verhältniß auf einer höheren Stufe zwiſchen der Religion und der Metaphyſik ſtattfindet. So hat die Mythenſprache für die vorwiſſenſchaftliche Zeit z. B. der griechiſchen Stämme eine über den Ausdruck des religiöſen Lebens hinausreichende Bedeutung. Die Grundmythen der indogermaniſchen Völker, wie ſie die vergleichende Mythologie feſtzuſtellen bemüht iſt, gleichen hierin den Wurzeln ihrer Sprachen, daß ſie relativ ſelbſtändige Mittel des Ausdrucks ſind, welche ſich in dem Wechſel der religiöſen Zuſtände als konſtante Dar- ſtellungsmittel erhalten. Sie dauern in immer neuen Metamor- phoſen (deren Geſetze aus denen der Phantaſie fließen), welchen Wechſel auch die Vorſtellungen von den Göttern und das ihnen zu Grunde liegende religiöſe Bewußtſein erfahren. Sie walten ſo ſelbſtändig in der Phantaſie dieſer Völker, daß ſie in derſelben nicht erlöſchen, auch wenn der Glaube erliſcht, der in ihnen ſich ausdrückte. Sie dienen in relativer Selbſtändigkeit einem über das reli- giöſe Bewußtſein hinausreichenden Bedürfniß, die Phänomene der

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 176. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/199>, abgerufen am 22.11.2024.