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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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D. mythische Vorstellen bringt einen realen Zusammenh. d. Phän. hervor.
diesen setzen sie Verhältnisse, insbesondere das von Ursache und Wir-
kung. So nachdrücklich als möglich muß man sich gegen Auffassungen
verwahren, welche diese aus dem täglichen Kleinverkehr mit den Ob-
jekten entspringenden Züge unserer Vorstellungsweise in der Zeit
der Mythenbildung in eine allgemeine Lebendigkeit des Welt-
zusammenhangs aufgelöst vorstellen. Wol ist ferner das frühe Be-
wußtsein der so entstehenden Beziehungen in der Sprache aus-
gedrückt worden. Das Wurzelverhältniß, die Sonderung der Wort-
arten, der Casus, Tempora etc., die syntaktische Gliederung, die
Unterordnung von Thatsachen unter Namen von Allgemeinvor-
stellungen: dies Alles bildet Beziehungen ab, welche an der
Wirklichkeit aufgefaßt und unterschieden worden sind. Das spätere
philosophische Denken knüpft in vielen Punkten an die Sprache
an; das mythische Vorstellen ist mit ihr in tiefen Bezügen ver-
webt. Dennoch ist, was hier geleistet wird, gänzlich verschieden
von der Herstellung des realen und allgemeinen Zusammen-
hangs zwischen den für die Menschen jener Tage bedeutsamen
Phänomenen, welche im mythischen Vorstellen vollbracht wird.
Die Funktion des mythischen Vorstellens ist daher in dieser Zeit
der analog, welche die Metaphysik für einen späteren Zeitraum
hat. Nicht die Religion, nicht das in ihr gesetzte Bewußtsein
Gottes bezeichnet ein solches erstes Stadium, daher auch nicht die
Vorstellung des Supranaturalen: sie bilden vielmehr die beständige
Bedingung des geistigen Lebens der Menschheit. Comte's Theorem
von dem ersten Stadium der geistigen Entwicklung, das er als
das theologische bezeichnet, ist daher unhaltbar, weil es die Funktion
des mythischen Vorstellens im Zusammenhang der geistigen Ent-
wicklung nicht von der Stellung der Religion in diesem Zu-
sammenhang sondert. Und die Annahme von dem beständig in
der Geschichte abnehmenden und allmälig vor der Wissenschaft
verschwindenden Einfluß religiöser Vorstellungen auf die euro-
päische Gesellschaft ist von dem Verlauf der Geschichte nicht be-
stätigt worden.

Und zwar zeigt das mythische Vorstellen eine relative
Selbständigkeit dem religiösen Leben gegenüber
.

D. mythiſche Vorſtellen bringt einen realen Zuſammenh. d. Phän. hervor.
dieſen ſetzen ſie Verhältniſſe, insbeſondere das von Urſache und Wir-
kung. So nachdrücklich als möglich muß man ſich gegen Auffaſſungen
verwahren, welche dieſe aus dem täglichen Kleinverkehr mit den Ob-
jekten entſpringenden Züge unſerer Vorſtellungsweiſe in der Zeit
der Mythenbildung in eine allgemeine Lebendigkeit des Welt-
zuſammenhangs aufgelöſt vorſtellen. Wol iſt ferner das frühe Be-
wußtſein der ſo entſtehenden Beziehungen in der Sprache aus-
gedrückt worden. Das Wurzelverhältniß, die Sonderung der Wort-
arten, der Caſus, Tempora etc., die ſyntaktiſche Gliederung, die
Unterordnung von Thatſachen unter Namen von Allgemeinvor-
ſtellungen: dies Alles bildet Beziehungen ab, welche an der
Wirklichkeit aufgefaßt und unterſchieden worden ſind. Das ſpätere
philoſophiſche Denken knüpft in vielen Punkten an die Sprache
an; das mythiſche Vorſtellen iſt mit ihr in tiefen Bezügen ver-
webt. Dennoch iſt, was hier geleiſtet wird, gänzlich verſchieden
von der Herſtellung des realen und allgemeinen Zuſammen-
hangs zwiſchen den für die Menſchen jener Tage bedeutſamen
Phänomenen, welche im mythiſchen Vorſtellen vollbracht wird.
Die Funktion des mythiſchen Vorſtellens iſt daher in dieſer Zeit
der analog, welche die Metaphyſik für einen ſpäteren Zeitraum
hat. Nicht die Religion, nicht das in ihr geſetzte Bewußtſein
Gottes bezeichnet ein ſolches erſtes Stadium, daher auch nicht die
Vorſtellung des Supranaturalen: ſie bilden vielmehr die beſtändige
Bedingung des geiſtigen Lebens der Menſchheit. Comte’s Theorem
von dem erſten Stadium der geiſtigen Entwicklung, das er als
das theologiſche bezeichnet, iſt daher unhaltbar, weil es die Funktion
des mythiſchen Vorſtellens im Zuſammenhang der geiſtigen Ent-
wicklung nicht von der Stellung der Religion in dieſem Zu-
ſammenhang ſondert. Und die Annahme von dem beſtändig in
der Geſchichte abnehmenden und allmälig vor der Wiſſenſchaft
verſchwindenden Einfluß religiöſer Vorſtellungen auf die euro-
päiſche Geſellſchaft iſt von dem Verlauf der Geſchichte nicht be-
ſtätigt worden.

Und zwar zeigt das mythiſche Vorſtellen eine relative
Selbſtändigkeit dem religiöſen Leben gegenüber
.

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[175/0198] D. mythiſche Vorſtellen bringt einen realen Zuſammenh. d. Phän. hervor. dieſen ſetzen ſie Verhältniſſe, insbeſondere das von Urſache und Wir- kung. So nachdrücklich als möglich muß man ſich gegen Auffaſſungen verwahren, welche dieſe aus dem täglichen Kleinverkehr mit den Ob- jekten entſpringenden Züge unſerer Vorſtellungsweiſe in der Zeit der Mythenbildung in eine allgemeine Lebendigkeit des Welt- zuſammenhangs aufgelöſt vorſtellen. Wol iſt ferner das frühe Be- wußtſein der ſo entſtehenden Beziehungen in der Sprache aus- gedrückt worden. Das Wurzelverhältniß, die Sonderung der Wort- arten, der Caſus, Tempora etc., die ſyntaktiſche Gliederung, die Unterordnung von Thatſachen unter Namen von Allgemeinvor- ſtellungen: dies Alles bildet Beziehungen ab, welche an der Wirklichkeit aufgefaßt und unterſchieden worden ſind. Das ſpätere philoſophiſche Denken knüpft in vielen Punkten an die Sprache an; das mythiſche Vorſtellen iſt mit ihr in tiefen Bezügen ver- webt. Dennoch iſt, was hier geleiſtet wird, gänzlich verſchieden von der Herſtellung des realen und allgemeinen Zuſammen- hangs zwiſchen den für die Menſchen jener Tage bedeutſamen Phänomenen, welche im mythiſchen Vorſtellen vollbracht wird. Die Funktion des mythiſchen Vorſtellens iſt daher in dieſer Zeit der analog, welche die Metaphyſik für einen ſpäteren Zeitraum hat. Nicht die Religion, nicht das in ihr geſetzte Bewußtſein Gottes bezeichnet ein ſolches erſtes Stadium, daher auch nicht die Vorſtellung des Supranaturalen: ſie bilden vielmehr die beſtändige Bedingung des geiſtigen Lebens der Menſchheit. Comte’s Theorem von dem erſten Stadium der geiſtigen Entwicklung, das er als das theologiſche bezeichnet, iſt daher unhaltbar, weil es die Funktion des mythiſchen Vorſtellens im Zuſammenhang der geiſtigen Ent- wicklung nicht von der Stellung der Religion in dieſem Zu- ſammenhang ſondert. Und die Annahme von dem beſtändig in der Geſchichte abnehmenden und allmälig vor der Wiſſenſchaft verſchwindenden Einfluß religiöſer Vorſtellungen auf die euro- päiſche Geſellſchaft iſt von dem Verlauf der Geſchichte nicht be- ſtätigt worden. Und zwar zeigt das mythiſche Vorſtellen eine relative Selbſtändigkeit dem religiöſen Leben gegenüber.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/198>, abgerufen am 22.11.2024.