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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Erster Abschnitt.
Alles, was der Mensch wirkend fand, zeigte dem Gemüth,
das Lust und Wehe empfindet, hofft und fürchtet, dem Willen,
der liebt und haßt, ein doppeltes Angesicht. Dies Alles ist
Leben, nicht schließendes Erkennen. Sobald diese unableitbaren
Bestandtheile meines eigenen Lebens, meiner inneren Erfahrung
sich mit den historischen Thatsachen, und zwar den durch sichere
Schlüsse verbürgten Thatsachen, nicht mehr zu geschichtlichem Ver-
ständniß zusammenschließen, bin ich an der Grenze des geschicht-
lichen Verfahrens angelangt. An diesem Punkte beginnt das Reich
des geschichtlich Transscendenten. Denn auch das geschichtliche Ver-
fahren hat eine innere, im Bewußtseinsvorgang selber liegende
und darum unverrückbare Grenze, so gut, als die naturwissenschaft-
liche Erkenntniß eine solche hat. Da es in dem gegenwärtigen Be-
wußtsein vermittelst der geschichtlichen Fakten die Schatten der Ver-
gangenheit erscheinen läßt, so vermag es nur aus dem Leben und
der Realität dieses Bewußtseins ihnen ihre Wirklichkeit mitzutheilen.

So weit konnte hier, vor der psychologischen Analysis, der
wichtige Satz festgestellt werden, welchem gemäß das religiöse
Leben der beständige Untergrund der uns geschichtlich bekannten
intellektuellen Entwicklung ist. Wir finden nun das religiöse
Leben
mit dem mythischen Vorstellen in dem Zeitraume
von der uns erhaltenen epischen Dichtung der Griechen ab bis zu
dem Auftreten der Wissenschaft in einer bestimmten Weise
verbunden
. Aus dem, was über die Art dieser Verbindung
noch festgestellt werden kann, entnehmen wir wenige und ganz
allgemeine Züge, welche für die Anschauung des Zweckzusammen-
hangs der intellektuellen Geschichte nothwendig sind.

Das mythische Vorstellen gestaltet einen realen und
lebendigen Zusammenhang
der den Menschen jener Tage be-
sonders bedeutsamen Phänomene. Hiermit leistet es etwas, was das
Wahrnehmen, Vorstellen, Wirken, welche mit den Objekten in täg-
lichem Verkehr stehen, sowie die Sprache nicht leisten. Wol ver-
knüpfen Wahrnehmen und Vorstellen überall die Eindrücke zu Dingen,
welchen Eigenschaften, Zustände, Thätigkeiten zukommen; zwischen

Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.
Alles, was der Menſch wirkend fand, zeigte dem Gemüth,
das Luſt und Wehe empfindet, hofft und fürchtet, dem Willen,
der liebt und haßt, ein doppeltes Angeſicht. Dies Alles iſt
Leben, nicht ſchließendes Erkennen. Sobald dieſe unableitbaren
Beſtandtheile meines eigenen Lebens, meiner inneren Erfahrung
ſich mit den hiſtoriſchen Thatſachen, und zwar den durch ſichere
Schlüſſe verbürgten Thatſachen, nicht mehr zu geſchichtlichem Ver-
ſtändniß zuſammenſchließen, bin ich an der Grenze des geſchicht-
lichen Verfahrens angelangt. An dieſem Punkte beginnt das Reich
des geſchichtlich Transſcendenten. Denn auch das geſchichtliche Ver-
fahren hat eine innere, im Bewußtſeinsvorgang ſelber liegende
und darum unverrückbare Grenze, ſo gut, als die naturwiſſenſchaft-
liche Erkenntniß eine ſolche hat. Da es in dem gegenwärtigen Be-
wußtſein vermittelſt der geſchichtlichen Fakten die Schatten der Ver-
gangenheit erſcheinen läßt, ſo vermag es nur aus dem Leben und
der Realität dieſes Bewußtſeins ihnen ihre Wirklichkeit mitzutheilen.

So weit konnte hier, vor der pſychologiſchen Analyſis, der
wichtige Satz feſtgeſtellt werden, welchem gemäß das religiöſe
Leben der beſtändige Untergrund der uns geſchichtlich bekannten
intellektuellen Entwicklung iſt. Wir finden nun das religiöſe
Leben
mit dem mythiſchen Vorſtellen in dem Zeitraume
von der uns erhaltenen epiſchen Dichtung der Griechen ab bis zu
dem Auftreten der Wiſſenſchaft in einer beſtimmten Weiſe
verbunden
. Aus dem, was über die Art dieſer Verbindung
noch feſtgeſtellt werden kann, entnehmen wir wenige und ganz
allgemeine Züge, welche für die Anſchauung des Zweckzuſammen-
hangs der intellektuellen Geſchichte nothwendig ſind.

Das mythiſche Vorſtellen geſtaltet einen realen und
lebendigen Zuſammenhang
der den Menſchen jener Tage be-
ſonders bedeutſamen Phänomene. Hiermit leiſtet es etwas, was das
Wahrnehmen, Vorſtellen, Wirken, welche mit den Objekten in täg-
lichem Verkehr ſtehen, ſowie die Sprache nicht leiſten. Wol ver-
knüpfen Wahrnehmen und Vorſtellen überall die Eindrücke zu Dingen,
welchen Eigenſchaften, Zuſtände, Thätigkeiten zukommen; zwiſchen

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[174/0197] Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. Alles, was der Menſch wirkend fand, zeigte dem Gemüth, das Luſt und Wehe empfindet, hofft und fürchtet, dem Willen, der liebt und haßt, ein doppeltes Angeſicht. Dies Alles iſt Leben, nicht ſchließendes Erkennen. Sobald dieſe unableitbaren Beſtandtheile meines eigenen Lebens, meiner inneren Erfahrung ſich mit den hiſtoriſchen Thatſachen, und zwar den durch ſichere Schlüſſe verbürgten Thatſachen, nicht mehr zu geſchichtlichem Ver- ſtändniß zuſammenſchließen, bin ich an der Grenze des geſchicht- lichen Verfahrens angelangt. An dieſem Punkte beginnt das Reich des geſchichtlich Transſcendenten. Denn auch das geſchichtliche Ver- fahren hat eine innere, im Bewußtſeinsvorgang ſelber liegende und darum unverrückbare Grenze, ſo gut, als die naturwiſſenſchaft- liche Erkenntniß eine ſolche hat. Da es in dem gegenwärtigen Be- wußtſein vermittelſt der geſchichtlichen Fakten die Schatten der Ver- gangenheit erſcheinen läßt, ſo vermag es nur aus dem Leben und der Realität dieſes Bewußtſeins ihnen ihre Wirklichkeit mitzutheilen. So weit konnte hier, vor der pſychologiſchen Analyſis, der wichtige Satz feſtgeſtellt werden, welchem gemäß das religiöſe Leben der beſtändige Untergrund der uns geſchichtlich bekannten intellektuellen Entwicklung iſt. Wir finden nun das religiöſe Leben mit dem mythiſchen Vorſtellen in dem Zeitraume von der uns erhaltenen epiſchen Dichtung der Griechen ab bis zu dem Auftreten der Wiſſenſchaft in einer beſtimmten Weiſe verbunden. Aus dem, was über die Art dieſer Verbindung noch feſtgeſtellt werden kann, entnehmen wir wenige und ganz allgemeine Züge, welche für die Anſchauung des Zweckzuſammen- hangs der intellektuellen Geſchichte nothwendig ſind. Das mythiſche Vorſtellen geſtaltet einen realen und lebendigen Zuſammenhang der den Menſchen jener Tage be- ſonders bedeutſamen Phänomene. Hiermit leiſtet es etwas, was das Wahrnehmen, Vorſtellen, Wirken, welche mit den Objekten in täg- lichem Verkehr ſtehen, ſowie die Sprache nicht leiſten. Wol ver- knüpfen Wahrnehmen und Vorſtellen überall die Eindrücke zu Dingen, welchen Eigenſchaften, Zuſtände, Thätigkeiten zukommen; zwiſchen

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/197>, abgerufen am 25.11.2024.