Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.
Das religiöse Leben als beständige Unterlage der Kultur. Kultur in England und bei uns verfallen daher in den folgendenWiderspruch. Sie finden unableitbare Thatsachen der inneren Er- fahrung in dem primären Zustande der Menschheit noch nicht vorhanden, aber sie wollen weder darauf verzichten, diesen Zustand historisch zu verstehen, noch darauf, den folgenden aus ihm ab- zuleiten. So weit also überhaupt die Verbindung nackter Fakta zu 1) Den Ausgangspunkt dieses psychologischen Thatbestandes hat
Schleiermacher auf unanfechtbare Weise festgelegt. Dies bildet sein un- vergängliches Verdienst; er hat die intellektualistische Begründung der Religion auf Raisonnement des Verstandes, welches an der Hand der Begriffe Ursache, Verstand und Zweck geht, als secundär aufgezeigt; er hat gezeigt, wie das Selbstbewußtsein Thatsachen enthält, welche den Ansatzpunkt alles religiösen Lebens bilden. Dogmatik § 36, 1. (3. Aufl.) "Wir finden uns selbst immer nur im Fortbestehen, unser Dasein ist immer schon im Verlauf begriffen; mithin kann auch unser Selbstbewußtsein, sofern wir von allem anderen abgesehen uns nur als endliches Sein setzen, dieses nur in seinem Fortbestehen repräsentiren. In diesem aber auch so vollständig -- weil nämlich das schlechthinige Abhängigkeitsgefühl ein so allgemeiner Be- standtheil unseres Selbstbewußtseins ist -- daß wir sagen können, in welcher Art des Gesammtseins und in welchen Zeitpunkt wir auch möchten gestellt sein, wir würden in jeder vollständigen Besinnung uns immer nur so finden, und daß wir dieses auch immer auf das gesammte endliche Sein über- tragen." Sein Fehler lag darin, daß dieser tiefe Blick ihn nicht bestimmte, nunmehr mit der intellektualistischen Metaphysik zu brechen und der Phi- losophie eine seinem Ausgangspunkt entsprechende, psychologische Grundlage zu geben. So verfiel er dem Platonismus und der mächtigen Zeitströmung der Naturphilosophie. Das religiöſe Leben als beſtändige Unterlage der Kultur. Kultur in England und bei uns verfallen daher in den folgendenWiderſpruch. Sie finden unableitbare Thatſachen der inneren Er- fahrung in dem primären Zuſtande der Menſchheit noch nicht vorhanden, aber ſie wollen weder darauf verzichten, dieſen Zuſtand hiſtoriſch zu verſtehen, noch darauf, den folgenden aus ihm ab- zuleiten. So weit alſo überhaupt die Verbindung nackter Fakta zu 1) Den Ausgangspunkt dieſes pſychologiſchen Thatbeſtandes hat
Schleiermacher auf unanfechtbare Weiſe feſtgelegt. Dies bildet ſein un- vergängliches Verdienſt; er hat die intellektualiſtiſche Begründung der Religion auf Raiſonnement des Verſtandes, welches an der Hand der Begriffe Urſache, Verſtand und Zweck geht, als ſecundär aufgezeigt; er hat gezeigt, wie das Selbſtbewußtſein Thatſachen enthält, welche den Anſatzpunkt alles religiöſen Lebens bilden. Dogmatik § 36, 1. (3. Aufl.) „Wir finden uns ſelbſt immer nur im Fortbeſtehen, unſer Daſein iſt immer ſchon im Verlauf begriffen; mithin kann auch unſer Selbſtbewußtſein, ſofern wir von allem anderen abgeſehen uns nur als endliches Sein ſetzen, dieſes nur in ſeinem Fortbeſtehen repräſentiren. In dieſem aber auch ſo vollſtändig — weil nämlich das ſchlechthinige Abhängigkeitsgefühl ein ſo allgemeiner Be- ſtandtheil unſeres Selbſtbewußtſeins iſt — daß wir ſagen können, in welcher Art des Geſammtſeins und in welchen Zeitpunkt wir auch möchten geſtellt ſein, wir würden in jeder vollſtändigen Beſinnung uns immer nur ſo finden, und daß wir dieſes auch immer auf das geſammte endliche Sein über- tragen.“ Sein Fehler lag darin, daß dieſer tiefe Blick ihn nicht beſtimmte, nunmehr mit der intellektualiſtiſchen Metaphyſik zu brechen und der Phi- loſophie eine ſeinem Ausgangspunkt entſprechende, pſychologiſche Grundlage zu geben. So verfiel er dem Platonismus und der mächtigen Zeitſtrömung der Naturphiloſophie. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0196" n="173"/><fw place="top" type="header">Das religiöſe Leben als beſtändige Unterlage der Kultur.</fw><lb/> Kultur in England und bei uns verfallen daher in den folgenden<lb/> Widerſpruch. Sie finden unableitbare Thatſachen der inneren Er-<lb/> fahrung in dem primären Zuſtande der Menſchheit noch nicht<lb/> vorhanden, aber ſie wollen weder darauf verzichten, dieſen Zuſtand<lb/> hiſtoriſch zu verſtehen, noch darauf, den folgenden aus ihm ab-<lb/> zuleiten.</p><lb/> <p>So weit alſo überhaupt die Verbindung nackter Fakta zu<lb/> geſellſchaftlicher Erfahrung reicht, gab es keine Zeit, in welcher<lb/> nicht das Individuum, wie es ſich fand, ſich nur als fortbeſtehend,<lb/> rückwärts beſtimmt, ſonach unbedingt abhängig gefunden hätte,<lb/> alsdann den Horizont der Welt ſelber nach allen Seiten, ſinn-<lb/> lich geſehn, urſächlich aufgefaßt, als in die Unendlichkeit zer-<lb/> fließend <note place="foot" n="1)">Den Ausgangspunkt dieſes pſychologiſchen Thatbeſtandes hat<lb/><hi rendition="#g">Schleiermacher</hi> auf unanfechtbare Weiſe feſtgelegt. Dies bildet ſein un-<lb/> vergängliches Verdienſt; er hat die intellektualiſtiſche Begründung der<lb/> Religion auf Raiſonnement des Verſtandes, welches an der Hand der<lb/> Begriffe Urſache, Verſtand und Zweck geht, als ſecundär aufgezeigt; er<lb/> hat gezeigt, wie das Selbſtbewußtſein Thatſachen enthält, welche den<lb/> Anſatzpunkt alles religiöſen Lebens bilden. Dogmatik § 36, 1. (3. Aufl.) „Wir<lb/> finden uns ſelbſt immer nur im Fortbeſtehen, unſer Daſein iſt immer ſchon<lb/> im Verlauf begriffen; mithin kann auch unſer Selbſtbewußtſein, ſofern wir<lb/> von allem anderen abgeſehen uns nur als endliches Sein ſetzen, dieſes nur in<lb/> ſeinem Fortbeſtehen repräſentiren. In dieſem aber auch ſo vollſtändig —<lb/> weil nämlich das ſchlechthinige Abhängigkeitsgefühl ein ſo allgemeiner Be-<lb/> ſtandtheil unſeres Selbſtbewußtſeins iſt — daß wir ſagen können, in welcher<lb/> Art des Geſammtſeins und in welchen Zeitpunkt wir auch möchten geſtellt<lb/> ſein, wir würden in jeder vollſtändigen Beſinnung uns immer nur ſo finden,<lb/> und daß wir dieſes auch immer auf das geſammte endliche Sein über-<lb/> tragen.“ Sein Fehler lag darin, daß dieſer tiefe Blick ihn nicht beſtimmte,<lb/> nunmehr mit der intellektualiſtiſchen Metaphyſik zu brechen und der Phi-<lb/> loſophie eine ſeinem Ausgangspunkt entſprechende, pſychologiſche Grundlage<lb/> zu geben. So verfiel er dem Platonismus und der mächtigen Zeitſtrömung<lb/> der Naturphiloſophie.</note>. Es gab keine Zeit, in welcher nicht die freie<lb/> Spontaneität des Menſchen mit dem Anderen, deſſen Druck ihn<lb/> umgab, gerungen hätte, und auch die mythiſchen Vorſtellungen<lb/> haben in dem Willen ihre ſtarken Wurzeln. Keine Zeit beſtand,<lb/> in welcher der Menſch nicht im Gegenſatz zu ſeinem armen Leben<lb/> Bilder von etwas Reinerem und Vollkommnerem beſaß. Und<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [173/0196]
Das religiöſe Leben als beſtändige Unterlage der Kultur.
Kultur in England und bei uns verfallen daher in den folgenden
Widerſpruch. Sie finden unableitbare Thatſachen der inneren Er-
fahrung in dem primären Zuſtande der Menſchheit noch nicht
vorhanden, aber ſie wollen weder darauf verzichten, dieſen Zuſtand
hiſtoriſch zu verſtehen, noch darauf, den folgenden aus ihm ab-
zuleiten.
So weit alſo überhaupt die Verbindung nackter Fakta zu
geſellſchaftlicher Erfahrung reicht, gab es keine Zeit, in welcher
nicht das Individuum, wie es ſich fand, ſich nur als fortbeſtehend,
rückwärts beſtimmt, ſonach unbedingt abhängig gefunden hätte,
alsdann den Horizont der Welt ſelber nach allen Seiten, ſinn-
lich geſehn, urſächlich aufgefaßt, als in die Unendlichkeit zer-
fließend 1). Es gab keine Zeit, in welcher nicht die freie
Spontaneität des Menſchen mit dem Anderen, deſſen Druck ihn
umgab, gerungen hätte, und auch die mythiſchen Vorſtellungen
haben in dem Willen ihre ſtarken Wurzeln. Keine Zeit beſtand,
in welcher der Menſch nicht im Gegenſatz zu ſeinem armen Leben
Bilder von etwas Reinerem und Vollkommnerem beſaß. Und
1) Den Ausgangspunkt dieſes pſychologiſchen Thatbeſtandes hat
Schleiermacher auf unanfechtbare Weiſe feſtgelegt. Dies bildet ſein un-
vergängliches Verdienſt; er hat die intellektualiſtiſche Begründung der
Religion auf Raiſonnement des Verſtandes, welches an der Hand der
Begriffe Urſache, Verſtand und Zweck geht, als ſecundär aufgezeigt; er
hat gezeigt, wie das Selbſtbewußtſein Thatſachen enthält, welche den
Anſatzpunkt alles religiöſen Lebens bilden. Dogmatik § 36, 1. (3. Aufl.) „Wir
finden uns ſelbſt immer nur im Fortbeſtehen, unſer Daſein iſt immer ſchon
im Verlauf begriffen; mithin kann auch unſer Selbſtbewußtſein, ſofern wir
von allem anderen abgeſehen uns nur als endliches Sein ſetzen, dieſes nur in
ſeinem Fortbeſtehen repräſentiren. In dieſem aber auch ſo vollſtändig —
weil nämlich das ſchlechthinige Abhängigkeitsgefühl ein ſo allgemeiner Be-
ſtandtheil unſeres Selbſtbewußtſeins iſt — daß wir ſagen können, in welcher
Art des Geſammtſeins und in welchen Zeitpunkt wir auch möchten geſtellt
ſein, wir würden in jeder vollſtändigen Beſinnung uns immer nur ſo finden,
und daß wir dieſes auch immer auf das geſammte endliche Sein über-
tragen.“ Sein Fehler lag darin, daß dieſer tiefe Blick ihn nicht beſtimmte,
nunmehr mit der intellektualiſtiſchen Metaphyſik zu brechen und der Phi-
loſophie eine ſeinem Ausgangspunkt entſprechende, pſychologiſche Grundlage
zu geben. So verfiel er dem Platonismus und der mächtigen Zeitſtrömung
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