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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Erster Abschnitt.
heit, wird später durch die psychologische Zergliederung vervoll-
ständigt werden. Historisch ist dieses Verhältniß für die be-
reits abgelaufene Entwicklung nur innerhalb eines begrenzten Zeit-
raums nachweisbar. Es kann nicht historisch dargethan werden, daß
das religiöse Leben, wie wir es solchergestalt als den Untergrund
des geschichtlichen Lebens in Europa feststellen können, zu jeder
Zeit einen Bestandtheil der menschlichen Natur gebildet habe.
Nur so viel ergiebt sich aus dem bisher Entwickelten: wenn die
Thatsachen uns zwängen, an irgend einem Punkte der sich rück-
wärts erstreckenden Linie des geschichtlichen Verlaufs einen reli-
gionslosen Zustand
(Religion in dem Sinne des ursprünglichen
religiösen Erlebnisses genommen, in welchem sie das Bewußtsein
von gut und böse und die Beziehung hiervon auf einen Zu-
sammenhang, von dem der Mensch abhängig ist, bereits ent-
hält) anzunehmen -- was jedoch nicht der Fall ist -, alsdann
würde dieser Punkt zugleich ein Grenzpunkt des historischen
Verstehens
sein. Wir könnten über eine solche Zeit wol historische
Notizen haben, aber dieselbe läge jenseit der Grenzen unseres histo-
rischen Verständnisses. Denn wir verstehen nur vermittelst der
Uebertragung unserer inneren Erfahrung auf eine an sich todte
äußere Thatsächlichkeit. Wo nun unableitbare Bestandtheile der
inneren Erfahrung, durch welche der Zusammenhang dieser Er-
fahrung in unserem Bewußtsein erst möglich ist, in einem histo-
rischen Zustande als abwesend aufgefaßt werden sollen, da sind
wir eben an der Grenze des historischen Auffassens selber an-
gelangt. Hiermit ist nicht ausgeschlossen, daß ein solcher Zustand
bestanden habe. Es wäre möglich, daß Bestandtheile der inneren
Erfahrung, ob sie gleich für uns nicht ableitbar sind, dennoch nicht
primär wären, und die Erkenntnißtheorie hat eine solche Möglich-
keit zu prüfen. Aber das ist ausgeschlossen, daß wir ihn verstehen
und von ihm aus einen Zustand, in welchem dieser unableitbare
Bestandtheil alsdann auftritt, verständlich machen könnten; aus-
geschlossen also ist das historische Verständniß eines religionslosen
Zustandes und der Entstehung des religiösen Zustandes aus ihm.
Hervorragende neuere empiristische Schriften über die Anfänge der

Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.
heit, wird ſpäter durch die pſychologiſche Zergliederung vervoll-
ſtändigt werden. Hiſtoriſch iſt dieſes Verhältniß für die be-
reits abgelaufene Entwicklung nur innerhalb eines begrenzten Zeit-
raums nachweisbar. Es kann nicht hiſtoriſch dargethan werden, daß
das religiöſe Leben, wie wir es ſolchergeſtalt als den Untergrund
des geſchichtlichen Lebens in Europa feſtſtellen können, zu jeder
Zeit einen Beſtandtheil der menſchlichen Natur gebildet habe.
Nur ſo viel ergiebt ſich aus dem bisher Entwickelten: wenn die
Thatſachen uns zwängen, an irgend einem Punkte der ſich rück-
wärts erſtreckenden Linie des geſchichtlichen Verlaufs einen reli-
gionsloſen Zuſtand
(Religion in dem Sinne des urſprünglichen
religiöſen Erlebniſſes genommen, in welchem ſie das Bewußtſein
von gut und böſe und die Beziehung hiervon auf einen Zu-
ſammenhang, von dem der Menſch abhängig iſt, bereits ent-
hält) anzunehmen — was jedoch nicht der Fall iſt ‒, alsdann
würde dieſer Punkt zugleich ein Grenzpunkt des hiſtoriſchen
Verſtehens
ſein. Wir könnten über eine ſolche Zeit wol hiſtoriſche
Notizen haben, aber dieſelbe läge jenſeit der Grenzen unſeres hiſto-
riſchen Verſtändniſſes. Denn wir verſtehen nur vermittelſt der
Uebertragung unſerer inneren Erfahrung auf eine an ſich todte
äußere Thatſächlichkeit. Wo nun unableitbare Beſtandtheile der
inneren Erfahrung, durch welche der Zuſammenhang dieſer Er-
fahrung in unſerem Bewußtſein erſt möglich iſt, in einem hiſto-
riſchen Zuſtande als abweſend aufgefaßt werden ſollen, da ſind
wir eben an der Grenze des hiſtoriſchen Auffaſſens ſelber an-
gelangt. Hiermit iſt nicht ausgeſchloſſen, daß ein ſolcher Zuſtand
beſtanden habe. Es wäre möglich, daß Beſtandtheile der inneren
Erfahrung, ob ſie gleich für uns nicht ableitbar ſind, dennoch nicht
primär wären, und die Erkenntnißtheorie hat eine ſolche Möglich-
keit zu prüfen. Aber das iſt ausgeſchloſſen, daß wir ihn verſtehen
und von ihm aus einen Zuſtand, in welchem dieſer unableitbare
Beſtandtheil alsdann auftritt, verſtändlich machen könnten; aus-
geſchloſſen alſo iſt das hiſtoriſche Verſtändniß eines religionsloſen
Zuſtandes und der Entſtehung des religiöſen Zuſtandes aus ihm.
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[172/0195] Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. heit, wird ſpäter durch die pſychologiſche Zergliederung vervoll- ſtändigt werden. Hiſtoriſch iſt dieſes Verhältniß für die be- reits abgelaufene Entwicklung nur innerhalb eines begrenzten Zeit- raums nachweisbar. Es kann nicht hiſtoriſch dargethan werden, daß das religiöſe Leben, wie wir es ſolchergeſtalt als den Untergrund des geſchichtlichen Lebens in Europa feſtſtellen können, zu jeder Zeit einen Beſtandtheil der menſchlichen Natur gebildet habe. Nur ſo viel ergiebt ſich aus dem bisher Entwickelten: wenn die Thatſachen uns zwängen, an irgend einem Punkte der ſich rück- wärts erſtreckenden Linie des geſchichtlichen Verlaufs einen reli- gionsloſen Zuſtand (Religion in dem Sinne des urſprünglichen religiöſen Erlebniſſes genommen, in welchem ſie das Bewußtſein von gut und böſe und die Beziehung hiervon auf einen Zu- ſammenhang, von dem der Menſch abhängig iſt, bereits ent- hält) anzunehmen — was jedoch nicht der Fall iſt ‒, alsdann würde dieſer Punkt zugleich ein Grenzpunkt des hiſtoriſchen Verſtehens ſein. Wir könnten über eine ſolche Zeit wol hiſtoriſche Notizen haben, aber dieſelbe läge jenſeit der Grenzen unſeres hiſto- riſchen Verſtändniſſes. Denn wir verſtehen nur vermittelſt der Uebertragung unſerer inneren Erfahrung auf eine an ſich todte äußere Thatſächlichkeit. Wo nun unableitbare Beſtandtheile der inneren Erfahrung, durch welche der Zuſammenhang dieſer Er- fahrung in unſerem Bewußtſein erſt möglich iſt, in einem hiſto- riſchen Zuſtande als abweſend aufgefaßt werden ſollen, da ſind wir eben an der Grenze des hiſtoriſchen Auffaſſens ſelber an- gelangt. Hiermit iſt nicht ausgeſchloſſen, daß ein ſolcher Zuſtand beſtanden habe. Es wäre möglich, daß Beſtandtheile der inneren Erfahrung, ob ſie gleich für uns nicht ableitbar ſind, dennoch nicht primär wären, und die Erkenntnißtheorie hat eine ſolche Möglich- keit zu prüfen. Aber das iſt ausgeſchloſſen, daß wir ihn verſtehen und von ihm aus einen Zuſtand, in welchem dieſer unableitbare Beſtandtheil alsdann auftritt, verſtändlich machen könnten; aus- geſchloſſen alſo iſt das hiſtoriſche Verſtändniß eines religionsloſen Zuſtandes und der Entſtehung des religiöſen Zuſtandes aus ihm. Hervorragende neuere empiriſtiſche Schriften über die Anfänge der

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/195>, abgerufen am 24.11.2024.