nur ein besonderer Name für das Unendliche, mit dem der Natur- mensch so seine erste Fühlung gewinnt." 1) Und so führt die Be- trachtung religiöser Gemüthszustände überall auf die Verwebung der Erfahrung von Abhängigkeit mit der eines höheren und von der Natur unabhängigen Lebens zurück.
Das Merkmal des religiösen Lebens ist, daß es sich kraft einer anderen Art von Ueberzeugung behauptet, als die wissenschaftliche Evidenz ist. Der religiöse Glaube verweist allen Angriffen gegenüber auf die innere Erfahrung, auf das, was das Gemüth noch gegenwärtig in sich erleben kann, und das, was ihm geschichtlich widerfahren ist. Er ist weder vom Raisonnement ge- tragen noch kann er von ihm widerlegt werden. Er entspringt in der Totalität aller Gemüthskräfte, und auch nachdem der Differenzirungs- prozeß des geistigen Lebens die Poesie, die Metaphysik, wie die Wissenschaften zu relativ selbständigen Formen dieses geistigen Lebens entwickelt hat, bleibt das religiöse Erlebniß in der Tiefe des Gemüths fortbestehen und wirkt auf diese Formen. Denn nie wird das Erkennen, welches in den Wissenschaften thätig ist, des ursprünglichen Erlebens Herr, das in dem unmittelbaren Wissen dem Gemüth gegenwärtig ist. Das Erkennen arbeitet an diesem Erlebniß sozusagen von außen nach innen. Aber mag es auch immer neue Thatsachen dem Gedanken und der Nothwendigkeit unterwerfen -- und das ist seine Funktion -- : mit zäher Kraft des Widerstandes erhalten sich ihm gegenüber im Bewußtsein freier Wille, Zurechnung, Ideal, göttlicher Wille: sie bleiben stehen, ob sie gleich dem nothwendigen Zusammenhang in dem Erkennen widersprechend sind. Wol muß das Erkennen dem in ihm liegenden Gesetz gemäß seinen Gegenstand der Nothwendigkeit unterwerfen. Aber muß oder kann ihm darum Alles Gegenstand werden, muß oder kann Alles von ihm erkannt werden?
Diese Einsicht, daß das religiöse Leben der dauernde Untergrund der intellektuellen Entwick- lung ist, nicht eine vorübergehende Phase im Sinnen der Mensch-
1) Max Müller, Ursprung und Entwickelung der Religion. S. 41.
Der Thatbeſtand des religiöſen Lebens.
nur ein beſonderer Name für das Unendliche, mit dem der Natur- menſch ſo ſeine erſte Fühlung gewinnt.“ 1) Und ſo führt die Be- trachtung religiöſer Gemüthszuſtände überall auf die Verwebung der Erfahrung von Abhängigkeit mit der eines höheren und von der Natur unabhängigen Lebens zurück.
Das Merkmal des religiöſen Lebens iſt, daß es ſich kraft einer anderen Art von Ueberzeugung behauptet, als die wiſſenſchaftliche Evidenz iſt. Der religiöſe Glaube verweiſt allen Angriffen gegenüber auf die innere Erfahrung, auf das, was das Gemüth noch gegenwärtig in ſich erleben kann, und das, was ihm geſchichtlich widerfahren iſt. Er iſt weder vom Raiſonnement ge- tragen noch kann er von ihm widerlegt werden. Er entſpringt in der Totalität aller Gemüthskräfte, und auch nachdem der Differenzirungs- prozeß des geiſtigen Lebens die Poeſie, die Metaphyſik, wie die Wiſſenſchaften zu relativ ſelbſtändigen Formen dieſes geiſtigen Lebens entwickelt hat, bleibt das religiöſe Erlebniß in der Tiefe des Gemüths fortbeſtehen und wirkt auf dieſe Formen. Denn nie wird das Erkennen, welches in den Wiſſenſchaften thätig iſt, des urſprünglichen Erlebens Herr, das in dem unmittelbaren Wiſſen dem Gemüth gegenwärtig iſt. Das Erkennen arbeitet an dieſem Erlebniß ſozuſagen von außen nach innen. Aber mag es auch immer neue Thatſachen dem Gedanken und der Nothwendigkeit unterwerfen — und das iſt ſeine Funktion — : mit zäher Kraft des Widerſtandes erhalten ſich ihm gegenüber im Bewußtſein freier Wille, Zurechnung, Ideal, göttlicher Wille: ſie bleiben ſtehen, ob ſie gleich dem nothwendigen Zuſammenhang in dem Erkennen widerſprechend ſind. Wol muß das Erkennen dem in ihm liegenden Geſetz gemäß ſeinen Gegenſtand der Nothwendigkeit unterwerfen. Aber muß oder kann ihm darum Alles Gegenſtand werden, muß oder kann Alles von ihm erkannt werden?
Dieſe Einſicht, daß das religiöſe Leben der dauernde Untergrund der intellektuellen Entwick- lung iſt, nicht eine vorübergehende Phaſe im Sinnen der Menſch-
1) Max Müller, Urſprung und Entwickelung der Religion. S. 41.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0194"n="171"/><fwplace="top"type="header">Der Thatbeſtand des religiöſen Lebens.</fw><lb/>
nur ein beſonderer Name für das Unendliche, mit dem der Natur-<lb/>
menſch ſo ſeine erſte Fühlung gewinnt.“<noteplace="foot"n="1)">Max Müller, Urſprung und Entwickelung der Religion. S. 41.</note> Und ſo führt die Be-<lb/>
trachtung religiöſer Gemüthszuſtände überall auf die Verwebung<lb/>
der Erfahrung von Abhängigkeit mit der eines höheren und von<lb/>
der Natur unabhängigen Lebens zurück.</p><lb/><p>Das <hirendition="#g">Merkmal des religiöſen Lebens</hi> iſt, daß es<lb/>ſich kraft einer anderen Art von Ueberzeugung behauptet, als die<lb/>
wiſſenſchaftliche Evidenz iſt. Der religiöſe Glaube verweiſt allen<lb/>
Angriffen gegenüber auf die innere Erfahrung, auf das, was das<lb/>
Gemüth noch gegenwärtig in ſich erleben kann, und das, was ihm<lb/>
geſchichtlich widerfahren iſt. Er iſt weder vom Raiſonnement ge-<lb/>
tragen noch kann er von ihm widerlegt werden. Er entſpringt in der<lb/>
Totalität aller Gemüthskräfte, und auch nachdem der Differenzirungs-<lb/>
prozeß des geiſtigen Lebens die Poeſie, die Metaphyſik, wie die<lb/>
Wiſſenſchaften zu relativ ſelbſtändigen Formen dieſes geiſtigen<lb/>
Lebens entwickelt hat, bleibt das religiöſe Erlebniß in der Tiefe<lb/>
des Gemüths fortbeſtehen und wirkt auf dieſe Formen. Denn nie<lb/>
wird das Erkennen, welches in den Wiſſenſchaften thätig iſt, des<lb/>
urſprünglichen Erlebens Herr, das in dem unmittelbaren Wiſſen<lb/>
dem Gemüth gegenwärtig iſt. Das Erkennen arbeitet an dieſem<lb/>
Erlebniß ſozuſagen von außen nach innen. Aber mag es auch<lb/>
immer neue Thatſachen dem Gedanken und der Nothwendigkeit<lb/>
unterwerfen — und das iſt ſeine Funktion — : mit zäher Kraft des<lb/>
Widerſtandes erhalten ſich ihm gegenüber im Bewußtſein freier<lb/>
Wille, Zurechnung, Ideal, göttlicher Wille: ſie bleiben ſtehen,<lb/>
ob ſie gleich dem nothwendigen Zuſammenhang in dem Erkennen<lb/>
widerſprechend ſind. Wol muß das Erkennen dem in ihm<lb/>
liegenden Geſetz gemäß ſeinen Gegenſtand der Nothwendigkeit<lb/>
unterwerfen. Aber muß oder kann ihm darum Alles Gegenſtand<lb/>
werden, muß oder kann Alles von ihm erkannt werden?</p><lb/><p>Dieſe Einſicht, daß <hirendition="#g">das religiöſe Leben der<lb/>
dauernde Untergrund der intellektuellen Entwick-<lb/>
lung</hi> iſt, nicht eine vorübergehende Phaſe im Sinnen der Menſch-<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[171/0194]
Der Thatbeſtand des religiöſen Lebens.
nur ein beſonderer Name für das Unendliche, mit dem der Natur-
menſch ſo ſeine erſte Fühlung gewinnt.“ 1) Und ſo führt die Be-
trachtung religiöſer Gemüthszuſtände überall auf die Verwebung
der Erfahrung von Abhängigkeit mit der eines höheren und von
der Natur unabhängigen Lebens zurück.
Das Merkmal des religiöſen Lebens iſt, daß es
ſich kraft einer anderen Art von Ueberzeugung behauptet, als die
wiſſenſchaftliche Evidenz iſt. Der religiöſe Glaube verweiſt allen
Angriffen gegenüber auf die innere Erfahrung, auf das, was das
Gemüth noch gegenwärtig in ſich erleben kann, und das, was ihm
geſchichtlich widerfahren iſt. Er iſt weder vom Raiſonnement ge-
tragen noch kann er von ihm widerlegt werden. Er entſpringt in der
Totalität aller Gemüthskräfte, und auch nachdem der Differenzirungs-
prozeß des geiſtigen Lebens die Poeſie, die Metaphyſik, wie die
Wiſſenſchaften zu relativ ſelbſtändigen Formen dieſes geiſtigen
Lebens entwickelt hat, bleibt das religiöſe Erlebniß in der Tiefe
des Gemüths fortbeſtehen und wirkt auf dieſe Formen. Denn nie
wird das Erkennen, welches in den Wiſſenſchaften thätig iſt, des
urſprünglichen Erlebens Herr, das in dem unmittelbaren Wiſſen
dem Gemüth gegenwärtig iſt. Das Erkennen arbeitet an dieſem
Erlebniß ſozuſagen von außen nach innen. Aber mag es auch
immer neue Thatſachen dem Gedanken und der Nothwendigkeit
unterwerfen — und das iſt ſeine Funktion — : mit zäher Kraft des
Widerſtandes erhalten ſich ihm gegenüber im Bewußtſein freier
Wille, Zurechnung, Ideal, göttlicher Wille: ſie bleiben ſtehen,
ob ſie gleich dem nothwendigen Zuſammenhang in dem Erkennen
widerſprechend ſind. Wol muß das Erkennen dem in ihm
liegenden Geſetz gemäß ſeinen Gegenſtand der Nothwendigkeit
unterwerfen. Aber muß oder kann ihm darum Alles Gegenſtand
werden, muß oder kann Alles von ihm erkannt werden?
Dieſe Einſicht, daß das religiöſe Leben der
dauernde Untergrund der intellektuellen Entwick-
lung iſt, nicht eine vorübergehende Phaſe im Sinnen der Menſch-
1) Max Müller, Urſprung und Entwickelung der Religion. S. 41.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/194>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.