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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Der Thatbestand des religiösen Lebens.
nur ein besonderer Name für das Unendliche, mit dem der Natur-
mensch so seine erste Fühlung gewinnt." 1) Und so führt die Be-
trachtung religiöser Gemüthszustände überall auf die Verwebung
der Erfahrung von Abhängigkeit mit der eines höheren und von
der Natur unabhängigen Lebens zurück.

Das Merkmal des religiösen Lebens ist, daß es
sich kraft einer anderen Art von Ueberzeugung behauptet, als die
wissenschaftliche Evidenz ist. Der religiöse Glaube verweist allen
Angriffen gegenüber auf die innere Erfahrung, auf das, was das
Gemüth noch gegenwärtig in sich erleben kann, und das, was ihm
geschichtlich widerfahren ist. Er ist weder vom Raisonnement ge-
tragen noch kann er von ihm widerlegt werden. Er entspringt in der
Totalität aller Gemüthskräfte, und auch nachdem der Differenzirungs-
prozeß des geistigen Lebens die Poesie, die Metaphysik, wie die
Wissenschaften zu relativ selbständigen Formen dieses geistigen
Lebens entwickelt hat, bleibt das religiöse Erlebniß in der Tiefe
des Gemüths fortbestehen und wirkt auf diese Formen. Denn nie
wird das Erkennen, welches in den Wissenschaften thätig ist, des
ursprünglichen Erlebens Herr, das in dem unmittelbaren Wissen
dem Gemüth gegenwärtig ist. Das Erkennen arbeitet an diesem
Erlebniß sozusagen von außen nach innen. Aber mag es auch
immer neue Thatsachen dem Gedanken und der Nothwendigkeit
unterwerfen -- und das ist seine Funktion -- : mit zäher Kraft des
Widerstandes erhalten sich ihm gegenüber im Bewußtsein freier
Wille, Zurechnung, Ideal, göttlicher Wille: sie bleiben stehen,
ob sie gleich dem nothwendigen Zusammenhang in dem Erkennen
widersprechend sind. Wol muß das Erkennen dem in ihm
liegenden Gesetz gemäß seinen Gegenstand der Nothwendigkeit
unterwerfen. Aber muß oder kann ihm darum Alles Gegenstand
werden, muß oder kann Alles von ihm erkannt werden?

Diese Einsicht, daß das religiöse Leben der
dauernde Untergrund der intellektuellen Entwick-
lung
ist, nicht eine vorübergehende Phase im Sinnen der Mensch-

1) Max Müller, Ursprung und Entwickelung der Religion. S. 41.

Der Thatbeſtand des religiöſen Lebens.
nur ein beſonderer Name für das Unendliche, mit dem der Natur-
menſch ſo ſeine erſte Fühlung gewinnt.“ 1) Und ſo führt die Be-
trachtung religiöſer Gemüthszuſtände überall auf die Verwebung
der Erfahrung von Abhängigkeit mit der eines höheren und von
der Natur unabhängigen Lebens zurück.

Das Merkmal des religiöſen Lebens iſt, daß es
ſich kraft einer anderen Art von Ueberzeugung behauptet, als die
wiſſenſchaftliche Evidenz iſt. Der religiöſe Glaube verweiſt allen
Angriffen gegenüber auf die innere Erfahrung, auf das, was das
Gemüth noch gegenwärtig in ſich erleben kann, und das, was ihm
geſchichtlich widerfahren iſt. Er iſt weder vom Raiſonnement ge-
tragen noch kann er von ihm widerlegt werden. Er entſpringt in der
Totalität aller Gemüthskräfte, und auch nachdem der Differenzirungs-
prozeß des geiſtigen Lebens die Poeſie, die Metaphyſik, wie die
Wiſſenſchaften zu relativ ſelbſtändigen Formen dieſes geiſtigen
Lebens entwickelt hat, bleibt das religiöſe Erlebniß in der Tiefe
des Gemüths fortbeſtehen und wirkt auf dieſe Formen. Denn nie
wird das Erkennen, welches in den Wiſſenſchaften thätig iſt, des
urſprünglichen Erlebens Herr, das in dem unmittelbaren Wiſſen
dem Gemüth gegenwärtig iſt. Das Erkennen arbeitet an dieſem
Erlebniß ſozuſagen von außen nach innen. Aber mag es auch
immer neue Thatſachen dem Gedanken und der Nothwendigkeit
unterwerfen — und das iſt ſeine Funktion — : mit zäher Kraft des
Widerſtandes erhalten ſich ihm gegenüber im Bewußtſein freier
Wille, Zurechnung, Ideal, göttlicher Wille: ſie bleiben ſtehen,
ob ſie gleich dem nothwendigen Zuſammenhang in dem Erkennen
widerſprechend ſind. Wol muß das Erkennen dem in ihm
liegenden Geſetz gemäß ſeinen Gegenſtand der Nothwendigkeit
unterwerfen. Aber muß oder kann ihm darum Alles Gegenſtand
werden, muß oder kann Alles von ihm erkannt werden?

Dieſe Einſicht, daß das religiöſe Leben der
dauernde Untergrund der intellektuellen Entwick-
lung
iſt, nicht eine vorübergehende Phaſe im Sinnen der Menſch-

1) Max Müller, Urſprung und Entwickelung der Religion. S. 41.
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[171/0194] Der Thatbeſtand des religiöſen Lebens. nur ein beſonderer Name für das Unendliche, mit dem der Natur- menſch ſo ſeine erſte Fühlung gewinnt.“ 1) Und ſo führt die Be- trachtung religiöſer Gemüthszuſtände überall auf die Verwebung der Erfahrung von Abhängigkeit mit der eines höheren und von der Natur unabhängigen Lebens zurück. Das Merkmal des religiöſen Lebens iſt, daß es ſich kraft einer anderen Art von Ueberzeugung behauptet, als die wiſſenſchaftliche Evidenz iſt. Der religiöſe Glaube verweiſt allen Angriffen gegenüber auf die innere Erfahrung, auf das, was das Gemüth noch gegenwärtig in ſich erleben kann, und das, was ihm geſchichtlich widerfahren iſt. Er iſt weder vom Raiſonnement ge- tragen noch kann er von ihm widerlegt werden. Er entſpringt in der Totalität aller Gemüthskräfte, und auch nachdem der Differenzirungs- prozeß des geiſtigen Lebens die Poeſie, die Metaphyſik, wie die Wiſſenſchaften zu relativ ſelbſtändigen Formen dieſes geiſtigen Lebens entwickelt hat, bleibt das religiöſe Erlebniß in der Tiefe des Gemüths fortbeſtehen und wirkt auf dieſe Formen. Denn nie wird das Erkennen, welches in den Wiſſenſchaften thätig iſt, des urſprünglichen Erlebens Herr, das in dem unmittelbaren Wiſſen dem Gemüth gegenwärtig iſt. Das Erkennen arbeitet an dieſem Erlebniß ſozuſagen von außen nach innen. Aber mag es auch immer neue Thatſachen dem Gedanken und der Nothwendigkeit unterwerfen — und das iſt ſeine Funktion — : mit zäher Kraft des Widerſtandes erhalten ſich ihm gegenüber im Bewußtſein freier Wille, Zurechnung, Ideal, göttlicher Wille: ſie bleiben ſtehen, ob ſie gleich dem nothwendigen Zuſammenhang in dem Erkennen widerſprechend ſind. Wol muß das Erkennen dem in ihm liegenden Geſetz gemäß ſeinen Gegenſtand der Nothwendigkeit unterwerfen. Aber muß oder kann ihm darum Alles Gegenſtand werden, muß oder kann Alles von ihm erkannt werden? Dieſe Einſicht, daß das religiöſe Leben der dauernde Untergrund der intellektuellen Entwick- lung iſt, nicht eine vorübergehende Phaſe im Sinnen der Menſch- 1) Max Müller, Urſprung und Entwickelung der Religion. S. 41.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/194>, abgerufen am 24.11.2024.