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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Erstes einleitendes Buch.
keit der Erklärungsgründe der Geisteswissenschaften vollständig an.
Aber er ordnet ihre Methoden zu sehr dem Schema unter, welches
er aus dem Studium der Naturwissenschaften entwickelt hat. "Wenn",
so sagt er in dieser Beziehung, "einige Gegenstände Resul-
tate ergaben, denen zuletzt alle auf den Beweis Achtenden ein-
stimmig beistimmten, wenn man in Beziehung auf andere weniger
glücklich war und die scharfsinnigsten Geister sich von der frühesten
Zeit an mit denselben beschäftigten, ohne daß es ihnen gelungen
wäre, ein ansehnliches, gegen Zweifel oder Einwürfe gesichertes
System von Wahrheiten zu begründen, so dürfen wir diesen Fleck
vom Antlitz der Wissenschaft dadurch zu entfernen hoffen, daß wir
die bei den ersteren Untersuchungen so glücklich befolgten Methoden
verallgemeinern und sie den letzteren anpassen 1)." So anfechtbar
dieser Schluß ist, so unfruchtbar ist die "Anpassung" der Me-
thoden der Geisteswissenschaften gewesen, welche durch ihn be-
gründet wird. Bei Mill besonders vernimmt man das einförmige
und ermüdende Geklapper der Worte Induktion und Deduktion,
welches jetzt aus allen uns umgebenden Ländern zu uns herübertönt.
Die ganze Geschichte der Geisteswissenschaften ist ein Gegenbeweis
gegen den Gedanken einer solchen "Anpassung". Diese Wissen-
schaften haben eine ganz andere Grundlage und Struktur als die
der Natur. Ihr Objekt setzt sich aus gegebenen, nicht erschlossenen
Einheiten, welche uns von innen verständlich sind, zusammen;
wir wissen, verstehen hier zuerst, um allmälig zu erkennen. Fort-
schreitende Analysis eines von uns in unmittelbarem Wissen und
in Verständniß von vorn herein besessenen Ganzen: das ist daher
der Charakter der Geschichte dieser Wissenschaften. Die Theorie der
Staaten oder der Dichtung, wie sie die Griechen zu Alexanders
Zeit besaßen, verhält sich zu unserer Staatswissenschaft oder Aesthetik
ganz anders als naturwissenschaftliche Vorstellungen jener Epoche
zu den unseren. Und es ist eine eigene Art von Erfahrung die
hier stattfindet: das Objekt baut sich selber erst vor den Augen
der fortschreitenden Wissenschaft nach und nach auf; Individuen

1) Mill, Logik 2, 436.

Erſtes einleitendes Buch.
keit der Erklärungsgründe der Geiſteswiſſenſchaften vollſtändig an.
Aber er ordnet ihre Methoden zu ſehr dem Schema unter, welches
er aus dem Studium der Naturwiſſenſchaften entwickelt hat. „Wenn“,
ſo ſagt er in dieſer Beziehung, „einige Gegenſtände Reſul-
tate ergaben, denen zuletzt alle auf den Beweis Achtenden ein-
ſtimmig beiſtimmten, wenn man in Beziehung auf andere weniger
glücklich war und die ſcharfſinnigſten Geiſter ſich von der früheſten
Zeit an mit denſelben beſchäftigten, ohne daß es ihnen gelungen
wäre, ein anſehnliches, gegen Zweifel oder Einwürfe geſichertes
Syſtem von Wahrheiten zu begründen, ſo dürfen wir dieſen Fleck
vom Antlitz der Wiſſenſchaft dadurch zu entfernen hoffen, daß wir
die bei den erſteren Unterſuchungen ſo glücklich befolgten Methoden
verallgemeinern und ſie den letzteren anpaſſen 1).“ So anfechtbar
dieſer Schluß iſt, ſo unfruchtbar iſt die „Anpaſſung“ der Me-
thoden der Geiſteswiſſenſchaften geweſen, welche durch ihn be-
gründet wird. Bei Mill beſonders vernimmt man das einförmige
und ermüdende Geklapper der Worte Induktion und Deduktion,
welches jetzt aus allen uns umgebenden Ländern zu uns herübertönt.
Die ganze Geſchichte der Geiſteswiſſenſchaften iſt ein Gegenbeweis
gegen den Gedanken einer ſolchen „Anpaſſung“. Dieſe Wiſſen-
ſchaften haben eine ganz andere Grundlage und Struktur als die
der Natur. Ihr Objekt ſetzt ſich aus gegebenen, nicht erſchloſſenen
Einheiten, welche uns von innen verſtändlich ſind, zuſammen;
wir wiſſen, verſtehen hier zuerſt, um allmälig zu erkennen. Fort-
ſchreitende Analyſis eines von uns in unmittelbarem Wiſſen und
in Verſtändniß von vorn herein beſeſſenen Ganzen: das iſt daher
der Charakter der Geſchichte dieſer Wiſſenſchaften. Die Theorie der
Staaten oder der Dichtung, wie ſie die Griechen zu Alexanders
Zeit beſaßen, verhält ſich zu unſerer Staatswiſſenſchaft oder Aeſthetik
ganz anders als naturwiſſenſchaftliche Vorſtellungen jener Epoche
zu den unſeren. Und es iſt eine eigene Art von Erfahrung die
hier ſtattfindet: das Objekt baut ſich ſelber erſt vor den Augen
der fortſchreitenden Wiſſenſchaft nach und nach auf; Individuen

1) Mill, Logik 2, 436.
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[136/0159] Erſtes einleitendes Buch. keit der Erklärungsgründe der Geiſteswiſſenſchaften vollſtändig an. Aber er ordnet ihre Methoden zu ſehr dem Schema unter, welches er aus dem Studium der Naturwiſſenſchaften entwickelt hat. „Wenn“, ſo ſagt er in dieſer Beziehung, „einige Gegenſtände Reſul- tate ergaben, denen zuletzt alle auf den Beweis Achtenden ein- ſtimmig beiſtimmten, wenn man in Beziehung auf andere weniger glücklich war und die ſcharfſinnigſten Geiſter ſich von der früheſten Zeit an mit denſelben beſchäftigten, ohne daß es ihnen gelungen wäre, ein anſehnliches, gegen Zweifel oder Einwürfe geſichertes Syſtem von Wahrheiten zu begründen, ſo dürfen wir dieſen Fleck vom Antlitz der Wiſſenſchaft dadurch zu entfernen hoffen, daß wir die bei den erſteren Unterſuchungen ſo glücklich befolgten Methoden verallgemeinern und ſie den letzteren anpaſſen 1).“ So anfechtbar dieſer Schluß iſt, ſo unfruchtbar iſt die „Anpaſſung“ der Me- thoden der Geiſteswiſſenſchaften geweſen, welche durch ihn be- gründet wird. Bei Mill beſonders vernimmt man das einförmige und ermüdende Geklapper der Worte Induktion und Deduktion, welches jetzt aus allen uns umgebenden Ländern zu uns herübertönt. Die ganze Geſchichte der Geiſteswiſſenſchaften iſt ein Gegenbeweis gegen den Gedanken einer ſolchen „Anpaſſung“. Dieſe Wiſſen- ſchaften haben eine ganz andere Grundlage und Struktur als die der Natur. Ihr Objekt ſetzt ſich aus gegebenen, nicht erſchloſſenen Einheiten, welche uns von innen verſtändlich ſind, zuſammen; wir wiſſen, verſtehen hier zuerſt, um allmälig zu erkennen. Fort- ſchreitende Analyſis eines von uns in unmittelbarem Wiſſen und in Verſtändniß von vorn herein beſeſſenen Ganzen: das iſt daher der Charakter der Geſchichte dieſer Wiſſenſchaften. Die Theorie der Staaten oder der Dichtung, wie ſie die Griechen zu Alexanders Zeit beſaßen, verhält ſich zu unſerer Staatswiſſenſchaft oder Aeſthetik ganz anders als naturwiſſenſchaftliche Vorſtellungen jener Epoche zu den unſeren. Und es iſt eine eigene Art von Erfahrung die hier ſtattfindet: das Objekt baut ſich ſelber erſt vor den Augen der fortſchreitenden Wiſſenſchaft nach und nach auf; Individuen 1) Mill, Logik 2, 436.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/159>, abgerufen am 25.11.2024.