die Natur dieser theoretischen Wissenschaften der Gesellschaft ent- schieden wird.
Die dargestellten psychischen Thatsachen von Gemeinschaft einer- seits, von Herrschaft und Abhängigkeit andrerseits (gegenseitige Ab- hängigkeit natürlich mit einbegriffen) durchströmen wie Herzblut in dem feinsten Adersystem die äußere Organisation der Gesellschaft. Alle Verbandsverhältnisse sind, psychologisch angesehen, aus ihnen zusammengesetzt. Und zwar ist das Vorhandensein dieser Gefühle keineswegs immer an das eines Verbands geknüpft, sondern diese psychischen und psychophysischen Bestandtheile alles Verbandslebens erstrecken sich viel weiter als dieses selber in der Gesellschaft. -- So finden wir in der naturgewachsenen Gliederung der Gesellschaft, welche der genealogische Zusammenhang zunächst bestimmt, nach den Grundverhältnissen von Abstammung und Verwandtschaft größere Gruppen immer die kleineren umfassend, diese nach ihrer Verwandtschaft aneinandergereiht: die an der größeren feststellbare durchgehende Modifikation der menschlichen Natur ist stets in dem Umfang der kleineren Gruppe durch neue Züge einer engeren Gleichförmigkeit näher bestimmt: und auf dieser Natur- grundlage verbindet nun eine intimere Wechselwirkung und ein be- stimmter Grad von Bewußtsein der Zusammengehörigkeit nach Gleich- artigkeit sowie nach Erinnerung von Abstammung und Verwandt- schaft eine jede solche Gruppe zu einem relativen Ganzen. Auch wo kein Verband mit ihnen verknüpft ist, bestehen diese Gemein- schaften. -- Mit der Niederlassung entsteht eine neue Gliederung, welche von der genealogischen unterschieden ist, ein neues Gefühl von Gemeinschaft, welches durch Heimathlichkeit, durch gemeinsamen Boden und gemeinsame Arbeit bedingt ist, und auch diese Ge- meinschaft ist von dem Bestand eines Verbandes unabhängig. -- Geschichtliche Macht großer Persönlichkeiten, geschichtliches Eingreifen großer Völkeraktionen ändern, zerbrechen, verknüpfen anders und näher, was so durch die Naturgliederung des genealogischen Zu- sammenhangs der Menschheit sowie des Bodens, auf dem derselbe sich ausbreitet, als ineinandergreifende Kreise von Gemeinschaften gegeben sein würde. Vor Allem die Völker haben sich durch welt-
Erſtes einleitendes Buch.
die Natur dieſer theoretiſchen Wiſſenſchaften der Geſellſchaft ent- ſchieden wird.
Die dargeſtellten pſychiſchen Thatſachen von Gemeinſchaft einer- ſeits, von Herrſchaft und Abhängigkeit andrerſeits (gegenſeitige Ab- hängigkeit natürlich mit einbegriffen) durchſtrömen wie Herzblut in dem feinſten Aderſyſtem die äußere Organiſation der Geſellſchaft. Alle Verbandsverhältniſſe ſind, pſychologiſch angeſehen, aus ihnen zuſammengeſetzt. Und zwar iſt das Vorhandenſein dieſer Gefühle keineswegs immer an das eines Verbands geknüpft, ſondern dieſe pſychiſchen und pſychophyſiſchen Beſtandtheile alles Verbandslebens erſtrecken ſich viel weiter als dieſes ſelber in der Geſellſchaft. — So finden wir in der naturgewachſenen Gliederung der Geſellſchaft, welche der genealogiſche Zuſammenhang zunächſt beſtimmt, nach den Grundverhältniſſen von Abſtammung und Verwandtſchaft größere Gruppen immer die kleineren umfaſſend, dieſe nach ihrer Verwandtſchaft aneinandergereiht: die an der größeren feſtſtellbare durchgehende Modifikation der menſchlichen Natur iſt ſtets in dem Umfang der kleineren Gruppe durch neue Züge einer engeren Gleichförmigkeit näher beſtimmt: und auf dieſer Natur- grundlage verbindet nun eine intimere Wechſelwirkung und ein be- ſtimmter Grad von Bewußtſein der Zuſammengehörigkeit nach Gleich- artigkeit ſowie nach Erinnerung von Abſtammung und Verwandt- ſchaft eine jede ſolche Gruppe zu einem relativen Ganzen. Auch wo kein Verband mit ihnen verknüpft iſt, beſtehen dieſe Gemein- ſchaften. — Mit der Niederlaſſung entſteht eine neue Gliederung, welche von der genealogiſchen unterſchieden iſt, ein neues Gefühl von Gemeinſchaft, welches durch Heimathlichkeit, durch gemeinſamen Boden und gemeinſame Arbeit bedingt iſt, und auch dieſe Ge- meinſchaft iſt von dem Beſtand eines Verbandes unabhängig. — Geſchichtliche Macht großer Perſönlichkeiten, geſchichtliches Eingreifen großer Völkeraktionen ändern, zerbrechen, verknüpfen anders und näher, was ſo durch die Naturgliederung des genealogiſchen Zu- ſammenhangs der Menſchheit ſowie des Bodens, auf dem derſelbe ſich ausbreitet, als ineinandergreifende Kreiſe von Gemeinſchaften gegeben ſein würde. Vor Allem die Völker haben ſich durch welt-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0109"n="86"/><fwplace="top"type="header">Erſtes einleitendes Buch.</fw><lb/>
die Natur dieſer theoretiſchen Wiſſenſchaften der Geſellſchaft ent-<lb/>ſchieden wird.</p><lb/><p>Die dargeſtellten pſychiſchen Thatſachen von Gemeinſchaft einer-<lb/>ſeits, von Herrſchaft und Abhängigkeit andrerſeits (gegenſeitige Ab-<lb/>
hängigkeit natürlich mit einbegriffen) durchſtrömen wie Herzblut<lb/>
in dem feinſten Aderſyſtem die äußere Organiſation der Geſellſchaft.<lb/>
Alle <hirendition="#g">Verbandsverhältniſſe</hi>ſind, <hirendition="#g">pſychologiſch</hi> angeſehen,<lb/><hirendition="#g">aus ihnen zuſammengeſetzt</hi>. Und zwar iſt das Vorhandenſein<lb/>
dieſer Gefühle keineswegs immer an das eines Verbands geknüpft,<lb/>ſondern dieſe pſychiſchen und pſychophyſiſchen Beſtandtheile alles<lb/>
Verbandslebens erſtrecken ſich viel weiter als dieſes ſelber in der<lb/>
Geſellſchaft. — So finden wir in der naturgewachſenen Gliederung<lb/>
der Geſellſchaft, welche der genealogiſche Zuſammenhang zunächſt<lb/>
beſtimmt, nach den Grundverhältniſſen von Abſtammung und<lb/>
Verwandtſchaft größere Gruppen immer die kleineren umfaſſend, dieſe<lb/>
nach ihrer Verwandtſchaft aneinandergereiht: die an der größeren<lb/>
feſtſtellbare durchgehende Modifikation der menſchlichen Natur iſt<lb/>ſtets in dem Umfang der kleineren Gruppe durch neue Züge einer<lb/>
engeren Gleichförmigkeit näher beſtimmt: und auf dieſer Natur-<lb/>
grundlage verbindet nun eine intimere Wechſelwirkung und ein be-<lb/>ſtimmter Grad von Bewußtſein der Zuſammengehörigkeit nach Gleich-<lb/>
artigkeit ſowie nach Erinnerung von Abſtammung und Verwandt-<lb/>ſchaft eine jede ſolche Gruppe zu einem relativen Ganzen. Auch<lb/>
wo kein Verband mit ihnen verknüpft iſt, beſtehen dieſe Gemein-<lb/>ſchaften. — Mit der Niederlaſſung entſteht eine neue Gliederung,<lb/>
welche von der genealogiſchen unterſchieden iſt, ein neues Gefühl<lb/>
von Gemeinſchaft, welches durch Heimathlichkeit, durch gemeinſamen<lb/>
Boden und gemeinſame Arbeit bedingt iſt, und auch dieſe Ge-<lb/>
meinſchaft iſt von dem Beſtand eines Verbandes unabhängig. —<lb/>
Geſchichtliche Macht großer Perſönlichkeiten, geſchichtliches Eingreifen<lb/>
großer Völkeraktionen ändern, zerbrechen, verknüpfen anders und<lb/>
näher, was ſo durch die Naturgliederung des genealogiſchen Zu-<lb/>ſammenhangs der Menſchheit ſowie des Bodens, auf dem derſelbe<lb/>ſich ausbreitet, als ineinandergreifende Kreiſe von Gemeinſchaften<lb/>
gegeben ſein würde. Vor Allem die Völker haben ſich durch welt-<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[86/0109]
Erſtes einleitendes Buch.
die Natur dieſer theoretiſchen Wiſſenſchaften der Geſellſchaft ent-
ſchieden wird.
Die dargeſtellten pſychiſchen Thatſachen von Gemeinſchaft einer-
ſeits, von Herrſchaft und Abhängigkeit andrerſeits (gegenſeitige Ab-
hängigkeit natürlich mit einbegriffen) durchſtrömen wie Herzblut
in dem feinſten Aderſyſtem die äußere Organiſation der Geſellſchaft.
Alle Verbandsverhältniſſe ſind, pſychologiſch angeſehen,
aus ihnen zuſammengeſetzt. Und zwar iſt das Vorhandenſein
dieſer Gefühle keineswegs immer an das eines Verbands geknüpft,
ſondern dieſe pſychiſchen und pſychophyſiſchen Beſtandtheile alles
Verbandslebens erſtrecken ſich viel weiter als dieſes ſelber in der
Geſellſchaft. — So finden wir in der naturgewachſenen Gliederung
der Geſellſchaft, welche der genealogiſche Zuſammenhang zunächſt
beſtimmt, nach den Grundverhältniſſen von Abſtammung und
Verwandtſchaft größere Gruppen immer die kleineren umfaſſend, dieſe
nach ihrer Verwandtſchaft aneinandergereiht: die an der größeren
feſtſtellbare durchgehende Modifikation der menſchlichen Natur iſt
ſtets in dem Umfang der kleineren Gruppe durch neue Züge einer
engeren Gleichförmigkeit näher beſtimmt: und auf dieſer Natur-
grundlage verbindet nun eine intimere Wechſelwirkung und ein be-
ſtimmter Grad von Bewußtſein der Zuſammengehörigkeit nach Gleich-
artigkeit ſowie nach Erinnerung von Abſtammung und Verwandt-
ſchaft eine jede ſolche Gruppe zu einem relativen Ganzen. Auch
wo kein Verband mit ihnen verknüpft iſt, beſtehen dieſe Gemein-
ſchaften. — Mit der Niederlaſſung entſteht eine neue Gliederung,
welche von der genealogiſchen unterſchieden iſt, ein neues Gefühl
von Gemeinſchaft, welches durch Heimathlichkeit, durch gemeinſamen
Boden und gemeinſame Arbeit bedingt iſt, und auch dieſe Ge-
meinſchaft iſt von dem Beſtand eines Verbandes unabhängig. —
Geſchichtliche Macht großer Perſönlichkeiten, geſchichtliches Eingreifen
großer Völkeraktionen ändern, zerbrechen, verknüpfen anders und
näher, was ſo durch die Naturgliederung des genealogiſchen Zu-
ſammenhangs der Menſchheit ſowie des Bodens, auf dem derſelbe
ſich ausbreitet, als ineinandergreifende Kreiſe von Gemeinſchaften
gegeben ſein würde. Vor Allem die Völker haben ſich durch welt-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/109>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.