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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Psychologische Grundlagen d. äuß. Organisation d. Gesellschaft.
geschichtliche That gebildet, welche die Naturgliederung durchbricht.
Aber wenn sie auch das volle Gefühl von Zusammengehörigkeit
in der Regel (nicht immer, wie das Beispiel der durch National-
gefühl verbundenen griechischen Politien zeigt) durch Zusammen-
fassung zur Staatseinheit erhalten haben: diese nationale Gemein-
schaft, die sich als Nationalgefühl im Gefühlsleben der zu der
Gruppe gehörigen Individuen reflektirt, vermag den Bestand des
Staates lange zu überleben, und so ist auch hier Gemeinschaft
nicht abhängig vom Bestand eines Verbandes. -- Mit diesen Kreisen
von Gemeinschaft, welche in genealogischer Gliederung und Nieder-
lassung gegründet sind, kreutzen sich nun weiter die Gemeinsam-
keiten und Abhängigkeitsverhältnisse dauernder Art, welche auf dem
Grunde der Kultursysteme der Menschheit entstehen. Gemeinsam-
keit der Sprache schließt sich an die genealogische Gliederung und
das nationale Leben; Verwandtschaft der Geburtsstellung, des Be-
sitzes und des Berufs bringt die Zusammengehörigkeit des Standes
hervor; Gleichheit der wirthschaftlichen Besitzverhältnisse, der durch
sie bedingten socialen Lage und Bildung verbindet die Individuen
zu einer Classe, die sich zusammengehörig fühlt und ihre Interessen
denen der anderen Classen gegenüberstellt; Gleichartigkeit der Ueber-
zeugung und thätigen Richtung begründet politische und kirchliche
Parteien: Gemeinsamkeiten, deren keine an und für sich einen Ver-
band einschließt. Andererseits entspringen aus dem Zweckzusammen-
hang in den Systemen Verhältnisse von Abhängigkeit, welche der
Staat ebenfalls nicht direkt hervorbringt, sondern welche von jenen
Kultursystemen her in ihm sich geltend machen. Ihr Verhältniß
zu der Zwangsgewalt, welche vom Staat selber ausgeht, bildet eines
der Hauptprobleme einer Mechanik der Gesellschaft. Die zwei
wirksamsten Arten von Abhängigkeit dieser Art sind die aus dem
Wirthschaftsleben und dem kirchlichen Leben entspringenden.

So bilden diese beiden psychischen Grundverhältnisse das ganze
Gewebe der äußeren Organisation der Menschheit. Das Willens-
verhältniß von Herrschaft und Abhängigkeit findet seine Grenze
an der Sphäre der äußern Freiheit; das der Gemeinschaft an der,
in welcher ein Individuum nur für sich da ist. Ausdrücklich

Pſychologiſche Grundlagen d. äuß. Organiſation d. Geſellſchaft.
geſchichtliche That gebildet, welche die Naturgliederung durchbricht.
Aber wenn ſie auch das volle Gefühl von Zuſammengehörigkeit
in der Regel (nicht immer, wie das Beiſpiel der durch National-
gefühl verbundenen griechiſchen Politien zeigt) durch Zuſammen-
faſſung zur Staatseinheit erhalten haben: dieſe nationale Gemein-
ſchaft, die ſich als Nationalgefühl im Gefühlsleben der zu der
Gruppe gehörigen Individuen reflektirt, vermag den Beſtand des
Staates lange zu überleben, und ſo iſt auch hier Gemeinſchaft
nicht abhängig vom Beſtand eines Verbandes. — Mit dieſen Kreiſen
von Gemeinſchaft, welche in genealogiſcher Gliederung und Nieder-
laſſung gegründet ſind, kreutzen ſich nun weiter die Gemeinſam-
keiten und Abhängigkeitsverhältniſſe dauernder Art, welche auf dem
Grunde der Kulturſyſteme der Menſchheit entſtehen. Gemeinſam-
keit der Sprache ſchließt ſich an die genealogiſche Gliederung und
das nationale Leben; Verwandtſchaft der Geburtsſtellung, des Be-
ſitzes und des Berufs bringt die Zuſammengehörigkeit des Standes
hervor; Gleichheit der wirthſchaftlichen Beſitzverhältniſſe, der durch
ſie bedingten ſocialen Lage und Bildung verbindet die Individuen
zu einer Claſſe, die ſich zuſammengehörig fühlt und ihre Intereſſen
denen der anderen Claſſen gegenüberſtellt; Gleichartigkeit der Ueber-
zeugung und thätigen Richtung begründet politiſche und kirchliche
Parteien: Gemeinſamkeiten, deren keine an und für ſich einen Ver-
band einſchließt. Andererſeits entſpringen aus dem Zweckzuſammen-
hang in den Syſtemen Verhältniſſe von Abhängigkeit, welche der
Staat ebenfalls nicht direkt hervorbringt, ſondern welche von jenen
Kulturſyſtemen her in ihm ſich geltend machen. Ihr Verhältniß
zu der Zwangsgewalt, welche vom Staat ſelber ausgeht, bildet eines
der Hauptprobleme einer Mechanik der Geſellſchaft. Die zwei
wirkſamſten Arten von Abhängigkeit dieſer Art ſind die aus dem
Wirthſchaftsleben und dem kirchlichen Leben entſpringenden.

So bilden dieſe beiden pſychiſchen Grundverhältniſſe das ganze
Gewebe der äußeren Organiſation der Menſchheit. Das Willens-
verhältniß von Herrſchaft und Abhängigkeit findet ſeine Grenze
an der Sphäre der äußern Freiheit; das der Gemeinſchaft an der,
in welcher ein Individuum nur für ſich da iſt. Ausdrücklich

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[87/0110] Pſychologiſche Grundlagen d. äuß. Organiſation d. Geſellſchaft. geſchichtliche That gebildet, welche die Naturgliederung durchbricht. Aber wenn ſie auch das volle Gefühl von Zuſammengehörigkeit in der Regel (nicht immer, wie das Beiſpiel der durch National- gefühl verbundenen griechiſchen Politien zeigt) durch Zuſammen- faſſung zur Staatseinheit erhalten haben: dieſe nationale Gemein- ſchaft, die ſich als Nationalgefühl im Gefühlsleben der zu der Gruppe gehörigen Individuen reflektirt, vermag den Beſtand des Staates lange zu überleben, und ſo iſt auch hier Gemeinſchaft nicht abhängig vom Beſtand eines Verbandes. — Mit dieſen Kreiſen von Gemeinſchaft, welche in genealogiſcher Gliederung und Nieder- laſſung gegründet ſind, kreutzen ſich nun weiter die Gemeinſam- keiten und Abhängigkeitsverhältniſſe dauernder Art, welche auf dem Grunde der Kulturſyſteme der Menſchheit entſtehen. Gemeinſam- keit der Sprache ſchließt ſich an die genealogiſche Gliederung und das nationale Leben; Verwandtſchaft der Geburtsſtellung, des Be- ſitzes und des Berufs bringt die Zuſammengehörigkeit des Standes hervor; Gleichheit der wirthſchaftlichen Beſitzverhältniſſe, der durch ſie bedingten ſocialen Lage und Bildung verbindet die Individuen zu einer Claſſe, die ſich zuſammengehörig fühlt und ihre Intereſſen denen der anderen Claſſen gegenüberſtellt; Gleichartigkeit der Ueber- zeugung und thätigen Richtung begründet politiſche und kirchliche Parteien: Gemeinſamkeiten, deren keine an und für ſich einen Ver- band einſchließt. Andererſeits entſpringen aus dem Zweckzuſammen- hang in den Syſtemen Verhältniſſe von Abhängigkeit, welche der Staat ebenfalls nicht direkt hervorbringt, ſondern welche von jenen Kulturſyſtemen her in ihm ſich geltend machen. Ihr Verhältniß zu der Zwangsgewalt, welche vom Staat ſelber ausgeht, bildet eines der Hauptprobleme einer Mechanik der Geſellſchaft. Die zwei wirkſamſten Arten von Abhängigkeit dieſer Art ſind die aus dem Wirthſchaftsleben und dem kirchlichen Leben entſpringenden. So bilden dieſe beiden pſychiſchen Grundverhältniſſe das ganze Gewebe der äußeren Organiſation der Menſchheit. Das Willens- verhältniß von Herrſchaft und Abhängigkeit findet ſeine Grenze an der Sphäre der äußern Freiheit; das der Gemeinſchaft an der, in welcher ein Individuum nur für ſich da iſt. Ausdrücklich

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/110>, abgerufen am 23.11.2024.