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Cramer, Wilhelm: Der christliche Vater wie er sein und was er thun soll. Nebst einem Anhange von Gebeten für denselben. Dülmen, 1874.

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Es war überhaupt seine Weise, selten zu tadeln und
selten positive Strafen und Züchtigungen anzuwen-
den; er strafte mich durch mich selbst. In den langen
Winterabenden hielt er mit uns eine Art Abendschule,
welche auch die jüngern Dienstboten besuchten. Ein-
mal zeigte ich keine Lust, auf die Stube zu gehen,
um da zu lernen, und erklärte offen, ich zöge vor,
bei den Knechten auf der Diele zu bleiben, wo ich
Rüben für das Vieh zerschneiden half. Meine beiden
Schwestern aber folgten mit großem Vergnügen dem
Vater. Nach einer Weile hörte ich auf der Stube
singen. Der Vater lehrte das Lied: "Prinz Euge-
nius, der edle Ritter etc."
Nun warf ich mein Messer
bei Seite, griff zu meinem Schreibzeuge und wollte
hinauf. Aber ich fand die Thüre verschlossen und
konnte an der lauten Freude der Uebrigen nicht Theil
nehmen. Traurig nahm ich Platz auf der Stuben-
treppe und bereuete meinen Fehler. Als aber endlich
die Andern herunterkamen und mir ihr schönes Bil-
derbuch zeigten, welches der Vater am Nachmittage
aus der Stadt mitgebracht und ihnen für ihre Lust
am Lernen geschenkt hatte, da hätte ich vor Reue ver-
gehen mögen. So war mein Eigenwille ohne Stock
und Ruthe abermals hart bestraft.

Wie er meine Fehler nicht ungeahndet ließ, so
verstand er es auch, mich angemessen zu belohnen,
wenn ich es verdient hatte. Hatte ich mich mehrere
Tage hindurch durch Folgsamkeit und Fleiß ausge-
zeichnet, so wurde ich, und zwar ohne daß er es mir
sagte, wofür ich den Lohn empfing, von ihm beson-
ders mit Aufmerksamkeit und Freundlichkeit behandelt.
Das war uns überhaupt die süßeste Belohnung, zu
wissen, daß der Vater mit uns zufrieden sei und an

Es war überhaupt seine Weise, selten zu tadeln und
selten positive Strafen und Züchtigungen anzuwen-
den; er strafte mich durch mich selbst. In den langen
Winterabenden hielt er mit uns eine Art Abendschule,
welche auch die jüngern Dienstboten besuchten. Ein-
mal zeigte ich keine Lust, auf die Stube zu gehen,
um da zu lernen, und erklärte offen, ich zöge vor,
bei den Knechten auf der Diele zu bleiben, wo ich
Rüben für das Vieh zerschneiden half. Meine beiden
Schwestern aber folgten mit großem Vergnügen dem
Vater. Nach einer Weile hörte ich auf der Stube
singen. Der Vater lehrte das Lied: „Prinz Euge-
nius, der edle Ritter ꝛc.“
Nun warf ich mein Messer
bei Seite, griff zu meinem Schreibzeuge und wollte
hinauf. Aber ich fand die Thüre verschlossen und
konnte an der lauten Freude der Uebrigen nicht Theil
nehmen. Traurig nahm ich Platz auf der Stuben-
treppe und bereuete meinen Fehler. Als aber endlich
die Andern herunterkamen und mir ihr schönes Bil-
derbuch zeigten, welches der Vater am Nachmittage
aus der Stadt mitgebracht und ihnen für ihre Lust
am Lernen geschenkt hatte, da hätte ich vor Reue ver-
gehen mögen. So war mein Eigenwille ohne Stock
und Ruthe abermals hart bestraft.

Wie er meine Fehler nicht ungeahndet ließ, so
verstand er es auch, mich angemessen zu belohnen,
wenn ich es verdient hatte. Hatte ich mich mehrere
Tage hindurch durch Folgsamkeit und Fleiß ausge-
zeichnet, so wurde ich, und zwar ohne daß er es mir
sagte, wofür ich den Lohn empfing, von ihm beson-
ders mit Aufmerksamkeit und Freundlichkeit behandelt.
Das war uns überhaupt die süßeste Belohnung, zu
wissen, daß der Vater mit uns zufrieden sei und an

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[152/0155] Es war überhaupt seine Weise, selten zu tadeln und selten positive Strafen und Züchtigungen anzuwen- den; er strafte mich durch mich selbst. In den langen Winterabenden hielt er mit uns eine Art Abendschule, welche auch die jüngern Dienstboten besuchten. Ein- mal zeigte ich keine Lust, auf die Stube zu gehen, um da zu lernen, und erklärte offen, ich zöge vor, bei den Knechten auf der Diele zu bleiben, wo ich Rüben für das Vieh zerschneiden half. Meine beiden Schwestern aber folgten mit großem Vergnügen dem Vater. Nach einer Weile hörte ich auf der Stube singen. Der Vater lehrte das Lied: „Prinz Euge- nius, der edle Ritter ꝛc.“ Nun warf ich mein Messer bei Seite, griff zu meinem Schreibzeuge und wollte hinauf. Aber ich fand die Thüre verschlossen und konnte an der lauten Freude der Uebrigen nicht Theil nehmen. Traurig nahm ich Platz auf der Stuben- treppe und bereuete meinen Fehler. Als aber endlich die Andern herunterkamen und mir ihr schönes Bil- derbuch zeigten, welches der Vater am Nachmittage aus der Stadt mitgebracht und ihnen für ihre Lust am Lernen geschenkt hatte, da hätte ich vor Reue ver- gehen mögen. So war mein Eigenwille ohne Stock und Ruthe abermals hart bestraft. Wie er meine Fehler nicht ungeahndet ließ, so verstand er es auch, mich angemessen zu belohnen, wenn ich es verdient hatte. Hatte ich mich mehrere Tage hindurch durch Folgsamkeit und Fleiß ausge- zeichnet, so wurde ich, und zwar ohne daß er es mir sagte, wofür ich den Lohn empfing, von ihm beson- ders mit Aufmerksamkeit und Freundlichkeit behandelt. Das war uns überhaupt die süßeste Belohnung, zu wissen, daß der Vater mit uns zufrieden sei und an

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Zitationshilfe: Cramer, Wilhelm: Der christliche Vater wie er sein und was er thun soll. Nebst einem Anhange von Gebeten für denselben. Dülmen, 1874, S. 152. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cramer_mutter_1874/155>, abgerufen am 26.04.2024.