Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Zollikofer, Georg Joachim: Andachtsübungen und Gebete zum Privatgebrauche für nachdenkende und gutgesinnte Christen. Leipzig, 1785.

Bild:
<< vorherige Seite

Wie muß man nachdenken?
meinem Verhalten Rechenschaft geben und ei-
ner Belohnung fähig seyn soll.

Was folget ferner aus jenem Begriffe von
der Tugend? Es folget daraus, daß die Tu-
gend ein unzertrennliches Ganzes, daß sie ei-
gentlich nur Eine, daß man entweder ganz, oder
gar nicht tugendhaft ist; daß die Tugend ihren
Sitz im Herzen haben, daß sie sich auf unsre
Gesinnungen und Neigungen und Absichten
eben sowohl als auf unsre Handlungen erstre-
cken, daß sie nicht auf gewisse Zeiten und Oer-
ter, nicht auf die Stunden der Andacht und
des Gottesdienstes eingeschränkt, daß sie unsre
beständige Begleiterinn und Führerinn seyn
muß.

Noch ein Beyspiel. Was folget wohl dar-
aus, wenn mein Geist unsterblich ist, wenn
er nach dem Tode des Körpers fortdauert, fort-
lebet, fortwirket? wenn sein künftiger Zustand
Fortsetzung des gegenwärtigen ist? Er wird
sich hier seiner Bestimmung, seiner Vollkom-
menheit genähert, oder von derselben entfernt
haben; und dieß wird ihm dort Freude oder
Qual verursachen. Er wird viele seiner ehema-
ligen Vorstellungen behalten; und die werden
ihm angenehm oder unangenehm, tröstlich oder

pein-

Wie muß man nachdenken?
meinem Verhalten Rechenſchaft geben und ei-
ner Belohnung fähig ſeyn ſoll.

Was folget ferner aus jenem Begriffe von
der Tugend? Es folget daraus, daß die Tu-
gend ein unzertrennliches Ganzes, daß ſie ei-
gentlich nur Eine, daß man entweder ganz, oder
gar nicht tugendhaft iſt; daß die Tugend ihren
Sitz im Herzen haben, daß ſie ſich auf unſre
Geſinnungen und Neigungen und Abſichten
eben ſowohl als auf unſre Handlungen erſtre-
cken, daß ſie nicht auf gewiſſe Zeiten und Oer-
ter, nicht auf die Stunden der Andacht und
des Gottesdienſtes eingeſchränkt, daß ſie unſre
beſtändige Begleiterinn und Führerinn ſeyn
muß.

Noch ein Beyſpiel. Was folget wohl dar-
aus, wenn mein Geiſt unſterblich iſt, wenn
er nach dem Tode des Körpers fortdauert, fort-
lebet, fortwirket? wenn ſein künftiger Zuſtand
Fortſetzung des gegenwärtigen iſt? Er wird
ſich hier ſeiner Beſtimmung, ſeiner Vollkom-
menheit genähert, oder von derſelben entfernt
haben; und dieß wird ihm dort Freude oder
Qual verurſachen. Er wird viele ſeiner ehema-
ligen Vorſtellungen behalten; und die werden
ihm angenehm oder unangenehm, tröſtlich oder

pein-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0037" n="15"/><fw place="top" type="header">Wie muß man nachdenken?</fw><lb/>
meinem Verhalten Rechen&#x017F;chaft geben und ei-<lb/>
ner Belohnung fähig &#x017F;eyn &#x017F;oll.</p><lb/>
        <p>Was folget ferner aus jenem Begriffe von<lb/>
der <hi rendition="#fr">Tugend?</hi> Es folget daraus, daß die Tu-<lb/>
gend ein unzertrennliches Ganzes, daß &#x017F;ie ei-<lb/>
gentlich nur Eine, daß man entweder ganz, oder<lb/>
gar nicht tugendhaft i&#x017F;t; daß die Tugend ihren<lb/>
Sitz im Herzen haben, daß &#x017F;ie &#x017F;ich auf un&#x017F;re<lb/>
Ge&#x017F;innungen und Neigungen und Ab&#x017F;ichten<lb/>
eben &#x017F;owohl als auf un&#x017F;re Handlungen er&#x017F;tre-<lb/>
cken, daß &#x017F;ie nicht auf gewi&#x017F;&#x017F;e Zeiten und Oer-<lb/>
ter, nicht auf die Stunden der Andacht und<lb/>
des Gottesdien&#x017F;tes einge&#x017F;chränkt, daß &#x017F;ie un&#x017F;re<lb/>
be&#x017F;tändige Begleiterinn und Führerinn &#x017F;eyn<lb/>
muß.</p><lb/>
        <p>Noch ein Bey&#x017F;piel. Was folget wohl dar-<lb/>
aus, wenn mein Gei&#x017F;t <hi rendition="#fr">un&#x017F;terblich</hi> i&#x017F;t, wenn<lb/>
er nach dem Tode des Körpers fortdauert, fort-<lb/>
lebet, fortwirket? wenn &#x017F;ein künftiger Zu&#x017F;tand<lb/>
Fort&#x017F;etzung des gegenwärtigen i&#x017F;t? Er wird<lb/>
&#x017F;ich hier &#x017F;einer Be&#x017F;timmung, &#x017F;einer Vollkom-<lb/>
menheit genähert, oder von der&#x017F;elben entfernt<lb/>
haben; und dieß wird ihm dort Freude oder<lb/>
Qual verur&#x017F;achen. Er wird viele &#x017F;einer ehema-<lb/>
ligen Vor&#x017F;tellungen behalten; und die werden<lb/>
ihm angenehm oder unangenehm, trö&#x017F;tlich oder<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">pein-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[15/0037] Wie muß man nachdenken? meinem Verhalten Rechenſchaft geben und ei- ner Belohnung fähig ſeyn ſoll. Was folget ferner aus jenem Begriffe von der Tugend? Es folget daraus, daß die Tu- gend ein unzertrennliches Ganzes, daß ſie ei- gentlich nur Eine, daß man entweder ganz, oder gar nicht tugendhaft iſt; daß die Tugend ihren Sitz im Herzen haben, daß ſie ſich auf unſre Geſinnungen und Neigungen und Abſichten eben ſowohl als auf unſre Handlungen erſtre- cken, daß ſie nicht auf gewiſſe Zeiten und Oer- ter, nicht auf die Stunden der Andacht und des Gottesdienſtes eingeſchränkt, daß ſie unſre beſtändige Begleiterinn und Führerinn ſeyn muß. Noch ein Beyſpiel. Was folget wohl dar- aus, wenn mein Geiſt unſterblich iſt, wenn er nach dem Tode des Körpers fortdauert, fort- lebet, fortwirket? wenn ſein künftiger Zuſtand Fortſetzung des gegenwärtigen iſt? Er wird ſich hier ſeiner Beſtimmung, ſeiner Vollkom- menheit genähert, oder von derſelben entfernt haben; und dieß wird ihm dort Freude oder Qual verurſachen. Er wird viele ſeiner ehema- ligen Vorſtellungen behalten; und die werden ihm angenehm oder unangenehm, tröſtlich oder pein-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang: Arbeitsschritte im Digitalisierungsworkflow: Vorbereitung der Bildvorlagen für die Textdigitalisierung; Bearbeitung, Konvertierung und ggf. Nachstrukturierung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Linda Kirsten, Frauke Thielert, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Erbauungsschriften zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW): Langfristige Bereitstellung der DTA-Ausgabe



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/zollikofer_andachtsuebungen01_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/zollikofer_andachtsuebungen01_1785/37
Zitationshilfe: Zollikofer, Georg Joachim: Andachtsübungen und Gebete zum Privatgebrauche für nachdenkende und gutgesinnte Christen. Leipzig, 1785, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zollikofer_andachtsuebungen01_1785/37>, abgerufen am 18.12.2024.