Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.VII. Der Ursitz des Menschengeschlechts. suchte. Der Schwierigkeit wegen des gemeinsamen Ursprungs dervier Paradiesesflüsse Euphrat, Tigris, Ganges und Nil, begegnete er durch die Auskunft: der Lauf dieser Flüsse erscheine jetzt, wegen Zerstörung der einstigen Paradiesesgegend durch die grausam ver- heerenden Wasser der Sintfluth, gänzlich verändert, ihre früheren Quellorte und Betten nicht mehr erkennbar. -- Für die orthodoxe Ueberlieferung des Lutherthums wurden diese Annahmen Luthers in seinem großen Genesis-Commentare auf lange hin maaßgebend; auch einzelne reformirte Schriftausleger, wie Sebastian Münster, Wolfgang Musculus, schlossen sich ihnen an. Ein gewisses mystisch-supranatu- ralistisches Element, hervortretend namentlich in der geradezu geheim- nißvollen und wundersamen Wirkung welche die Fluthgewässer bethätigt haben sollen, erscheint bei dieser lutherischen Theorie offenbar noch in Kraft befindlich. Es kommt keinem ihrer Vertreter in den Sinn, daß es eine durch geographische Gelehrsamkeit und exegetischen Scharfsinn bedingte wissenschaftliche Lösung des Problems der vier Flüsse geben könne, wodurch das Paradies ganz in den Kreis be- kannter orientalischer Länder hereingezogen werde. Einer solchen geographisch realistischen Anschauungsweise begegnet VII. Der Urſitz des Menſchengeſchlechts. ſuchte. Der Schwierigkeit wegen des gemeinſamen Urſprungs dervier Paradieſesflüſſe Euphrat, Tigris, Ganges und Nil, begegnete er durch die Auskunft: der Lauf dieſer Flüſſe erſcheine jetzt, wegen Zerſtörung der einſtigen Paradieſesgegend durch die grauſam ver- heerenden Waſſer der Sintfluth, gänzlich verändert, ihre früheren Quellorte und Betten nicht mehr erkennbar. — Für die orthodoxe Ueberlieferung des Lutherthums wurden dieſe Annahmen Luthers in ſeinem großen Geneſis-Commentare auf lange hin maaßgebend; auch einzelne reformirte Schriftausleger, wie Sebaſtian Münſter, Wolfgang Musculus, ſchloſſen ſich ihnen an. Ein gewiſſes myſtiſch-ſupranatu- raliſtiſches Element, hervortretend namentlich in der geradezu geheim- nißvollen und wunderſamen Wirkung welche die Fluthgewäſſer bethätigt haben ſollen, erſcheint bei dieſer lutheriſchen Theorie offenbar noch in Kraft befindlich. Es kommt keinem ihrer Vertreter in den Sinn, daß es eine durch geographiſche Gelehrſamkeit und exegetiſchen Scharfſinn bedingte wiſſenſchaftliche Löſung des Problems der vier Flüſſe geben könne, wodurch das Paradies ganz in den Kreis be- kannter orientaliſcher Länder hereingezogen werde. Einer ſolchen geographiſch realiſtiſchen Anſchauungsweiſe begegnet <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0230" n="220"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">VII.</hi> Der Urſitz des Menſchengeſchlechts.</fw><lb/> ſuchte. 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VII. Der Urſitz des Menſchengeſchlechts.
ſuchte. Der Schwierigkeit wegen des gemeinſamen Urſprungs der
vier Paradieſesflüſſe Euphrat, Tigris, Ganges und Nil, begegnete
er durch die Auskunft: der Lauf dieſer Flüſſe erſcheine jetzt, wegen
Zerſtörung der einſtigen Paradieſesgegend durch die grauſam ver-
heerenden Waſſer der Sintfluth, gänzlich verändert, ihre früheren
Quellorte und Betten nicht mehr erkennbar. — Für die orthodoxe
Ueberlieferung des Lutherthums wurden dieſe Annahmen Luthers in
ſeinem großen Geneſis-Commentare auf lange hin maaßgebend; auch
einzelne reformirte Schriftausleger, wie Sebaſtian Münſter, Wolfgang
Musculus, ſchloſſen ſich ihnen an. Ein gewiſſes myſtiſch-ſupranatu-
raliſtiſches Element, hervortretend namentlich in der geradezu geheim-
nißvollen und wunderſamen Wirkung welche die Fluthgewäſſer bethätigt
haben ſollen, erſcheint bei dieſer lutheriſchen Theorie offenbar noch
in Kraft befindlich. Es kommt keinem ihrer Vertreter in den Sinn,
daß es eine durch geographiſche Gelehrſamkeit und exegetiſchen
Scharfſinn bedingte wiſſenſchaftliche Löſung des Problems der vier
Flüſſe geben könne, wodurch das Paradies ganz in den Kreis be-
kannter orientaliſcher Länder hereingezogen werde.
Einer ſolchen geographiſch realiſtiſchen Anſchauungsweiſe begegnet
man zum erſten Male bei einem gleichzeitig myſtiſch und humaniſtiſch
angeregten katholiſchen Ausleger der Reformationszeit, dem Auguſtinus
Steuchus aus Gubbio (daher Eugubinus), päpſtlichem Bibliothekar
und Titularbiſchof von Chiſamo auf Kandia († 1550). Seine
1535 zu Lyon erſchienene „Kosmopöia‟, eine Auslegung der drei
Eingangskapitel der Geneſis, entwickelt zum erſten Male die von
da an allmählig zu bedeutendem Einfluß gelangte ſ. g. Paſitigris-
Deutung (Schat-el-Arab-Deutung) der Paradieſesflüſſe: dieſe
ſeien als Mündungen eines größeren Stromes gedacht, und da das
Goldland Chavila auf Arabien hindeute, müſſe dieſer Strom der
vereinigte Euphrat und Tigris bis zu ſeiner Mündung in den
perſiſchen Golf ſein; Piſon und Gihon ſeien als zwei beſondere Arme
des mächtigen Stromes zu denken. Trotz der mehrfachen Unklarheit,
woran dieſe Eugubinſche Theorie litt — denn ſie wies nicht näher
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