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Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.

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VII. Der Ursitz des Menschengeschlechts.
hohen Lage des Paradieses und einem unterirdischen Communiciren
der vier irdischen Paradiesesströme mit ihrem himmlischen Quellflusse,
auf die abendländisch-kirchliche Tradition des Mittelalters über.
Nur verschwand bei derselben die Donau aus der Reihe der vier
Ströme; Gihon und Pison wurden auf Ril und Ganges gedeutet,
und die Quelle Jenes (seit Beda dem Ehrwürdigen) ins Atlasgebirge,
die des Letzteren in den Kaukasus verlegt. Die Gesammtvorstellung
war so eine möglichst ungeographische, das ohnehin schon schwer Voll-
ziehbare der biblischen Schilderung bis zur Naturwidrigkeit steigernde
geworden! Die abweichenden Meinungen Einzelner, z. B. der hie
und da auftauchende spiritualistische Gedanke: die ganze Erdoberfläche
sei einst das Paradies gewesen, bis die schrecklichen Wirkungen zuerst
des Sündenfalls dann der Sündfluth die Herrlichkeit dieser ursprüng-
lichen Wohnstätte unsres Geschlechts bis zur Unkenntlichkeit verwischt
und vertilgt hätten, blieben unberücksichtigt. Hugo v. St. Victor
verwirft die letztere Meinung bestimmt und ausdrücklich.

Das Reformationszeitalter ließ zwar einige neue Vertreter
dieser den Paradiesesschauplatz kühn über den ganzen Erdkreis aus-
dehnenden Speculation erstehen; so den St. Gallener Reformator
Vadianus in seinem "Abriß der drei Erdtheile" (1534), den My-
stiker Valentin Weigel, später im 17. Jahrhundert den spanischen
Calatrava-Ritter Gonzalez de Sala und den Engländer Thomas
Burnet; doch blieben diese Alle sehr in der Minorität. Luther
bestritt diese Theorie, daß das Paradies "der ganze Erdboden wäre,"
obschon ihn eine gewisse natürliche Neigung zu ihr hinzog. Dem
Texte, wonach "es ein sonderlich Ort und Raum sei", wußte er
nicht zu widersprechen, bethätigte übrigens ein gewisses Streben nach
Beseitigung des überschwenglich supranaturalistischen Charakters der
kirchlich-traditionellen Theorie. Es galt ihm offenbar darum, die
Lage Edens unsrem wissenschaftlichen Begreifen näher zu rücken und
geographisch vorstellbarer zu machen, wenn er es in den beglücktesten
Gegenden des Morgenlandes, "in Syrien oder Arabien" etwa,
oder vielleicht nach alter Sage "auf dem Gebiete von Damaskus"

VII. Der Urſitz des Menſchengeſchlechts.
hohen Lage des Paradieſes und einem unterirdiſchen Communiciren
der vier irdiſchen Paradieſesſtröme mit ihrem himmliſchen Quellfluſſe,
auf die abendländiſch-kirchliche Tradition des Mittelalters über.
Nur verſchwand bei derſelben die Donau aus der Reihe der vier
Ströme; Gihon und Piſon wurden auf Ril und Ganges gedeutet,
und die Quelle Jenes (ſeit Beda dem Ehrwürdigen) ins Atlasgebirge,
die des Letzteren in den Kaukaſus verlegt. Die Geſammtvorſtellung
war ſo eine möglichſt ungeographiſche, das ohnehin ſchon ſchwer Voll-
ziehbare der bibliſchen Schilderung bis zur Naturwidrigkeit ſteigernde
geworden! Die abweichenden Meinungen Einzelner, z. B. der hie
und da auftauchende ſpiritualiſtiſche Gedanke: die ganze Erdoberfläche
ſei einſt das Paradies geweſen, bis die ſchrecklichen Wirkungen zuerſt
des Sündenfalls dann der Sündfluth die Herrlichkeit dieſer urſprüng-
lichen Wohnſtätte unſres Geſchlechts bis zur Unkenntlichkeit verwiſcht
und vertilgt hätten, blieben unberückſichtigt. Hugo v. St. Victor
verwirft die letztere Meinung beſtimmt und ausdrücklich.

Das Reformationszeitalter ließ zwar einige neue Vertreter
dieſer den Paradieſesſchauplatz kühn über den ganzen Erdkreis aus-
dehnenden Speculation erſtehen; ſo den St. Gallener Reformator
Vadianus in ſeinem „Abriß der drei Erdtheile‟ (1534), den My-
ſtiker Valentin Weigel, ſpäter im 17. Jahrhundert den ſpaniſchen
Calatrava-Ritter Gonzalez de Sala und den Engländer Thomas
Burnet; doch blieben dieſe Alle ſehr in der Minorität. Luther
beſtritt dieſe Theorie, daß das Paradies „der ganze Erdboden wäre,‟
obſchon ihn eine gewiſſe natürliche Neigung zu ihr hinzog. Dem
Texte, wonach „es ein ſonderlich Ort und Raum ſei‟, wußte er
nicht zu widerſprechen, bethätigte übrigens ein gewiſſes Streben nach
Beſeitigung des überſchwenglich ſupranaturaliſtiſchen Charakters der
kirchlich-traditionellen Theorie. Es galt ihm offenbar darum, die
Lage Edens unſrem wiſſenſchaftlichen Begreifen näher zu rücken und
geographiſch vorſtellbarer zu machen, wenn er es in den beglückteſten
Gegenden des Morgenlandes, „in Syrien oder Arabien‟ etwa,
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[219/0229] VII. Der Urſitz des Menſchengeſchlechts. hohen Lage des Paradieſes und einem unterirdiſchen Communiciren der vier irdiſchen Paradieſesſtröme mit ihrem himmliſchen Quellfluſſe, auf die abendländiſch-kirchliche Tradition des Mittelalters über. Nur verſchwand bei derſelben die Donau aus der Reihe der vier Ströme; Gihon und Piſon wurden auf Ril und Ganges gedeutet, und die Quelle Jenes (ſeit Beda dem Ehrwürdigen) ins Atlasgebirge, die des Letzteren in den Kaukaſus verlegt. Die Geſammtvorſtellung war ſo eine möglichſt ungeographiſche, das ohnehin ſchon ſchwer Voll- ziehbare der bibliſchen Schilderung bis zur Naturwidrigkeit ſteigernde geworden! Die abweichenden Meinungen Einzelner, z. B. der hie und da auftauchende ſpiritualiſtiſche Gedanke: die ganze Erdoberfläche ſei einſt das Paradies geweſen, bis die ſchrecklichen Wirkungen zuerſt des Sündenfalls dann der Sündfluth die Herrlichkeit dieſer urſprüng- lichen Wohnſtätte unſres Geſchlechts bis zur Unkenntlichkeit verwiſcht und vertilgt hätten, blieben unberückſichtigt. Hugo v. St. Victor verwirft die letztere Meinung beſtimmt und ausdrücklich. Das Reformationszeitalter ließ zwar einige neue Vertreter dieſer den Paradieſesſchauplatz kühn über den ganzen Erdkreis aus- dehnenden Speculation erſtehen; ſo den St. Gallener Reformator Vadianus in ſeinem „Abriß der drei Erdtheile‟ (1534), den My- ſtiker Valentin Weigel, ſpäter im 17. Jahrhundert den ſpaniſchen Calatrava-Ritter Gonzalez de Sala und den Engländer Thomas Burnet; doch blieben dieſe Alle ſehr in der Minorität. Luther beſtritt dieſe Theorie, daß das Paradies „der ganze Erdboden wäre,‟ obſchon ihn eine gewiſſe natürliche Neigung zu ihr hinzog. Dem Texte, wonach „es ein ſonderlich Ort und Raum ſei‟, wußte er nicht zu widerſprechen, bethätigte übrigens ein gewiſſes Streben nach Beſeitigung des überſchwenglich ſupranaturaliſtiſchen Charakters der kirchlich-traditionellen Theorie. Es galt ihm offenbar darum, die Lage Edens unſrem wiſſenſchaftlichen Begreifen näher zu rücken und geographiſch vorſtellbarer zu machen, wenn er es in den beglückteſten Gegenden des Morgenlandes, „in Syrien oder Arabien‟ etwa, oder vielleicht nach alter Sage „auf dem Gebiete von Damaskus‟

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Zitationshilfe: Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/229>, abgerufen am 03.05.2024.