Ziegler, Franz Wilhelm: Saat und Ernte. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 24. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 129–196. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.obwohl du die Sache angefangen hast. Wäre es nicht geschehen, so unterbliebe es vielleicht besser; aber da es geschehen, sehe ich darin, wie gesagt, einen Finger Gottes, der unsere Feinde in unsern Schutz treibt. Wenn aus jener Zeit jeder Einzelne seine Erlebnisse verzeichnete, gut oder schlecht, so würde dies für den spätern Geschichtsschreiber ein unschätzbares Material abgeben. Nie und nimmer hat die Weltgeschichte ein Beispiel davon geboten, wie auf dem ganzen Continent Europa's ein mit ungeheuren Kosten ein Menschenalter hindurch aufgebautes und dem Anschein nach festes Material zusammenbrach. Es war, als wenn alle Gewalt an Einem Tage wie durch einen elektrischen Schlag gelähmt an den Boden geworfen wäre, und die Welt sah erstaunt, daß sie ohne Regierung war. Die Feigheit der Beamten überstieg alles Maß. Polizeidirigenten liefen in die Wälder, Bürgermeister bekamen Fußtritte; bis zu den höchsten Beamten hinauf flüchteten Einige in die ländliche Einsamkeit, Andere verkleidet, den rothen Regenschirm und Nachtsack unter dem Arm, suchten bei entlegenen Landwirthen ein gastliches Dach. Gutsbesitzer, die auf ein halbes Dutzend Erntewagen ihre fahrende Habe geworfen, suchten Schutz in der Stadt, und aus der Stadt liefen Andere hinaus, um auf dem Lande versteckt zu bleiben. Jeden Abend die Nachricht von einer neuen Revolution in dieser oder jener Residenz, und jedesmal ein Laufen und Gebahren, als wenn das Volk morden obwohl du die Sache angefangen hast. Wäre es nicht geschehen, so unterbliebe es vielleicht besser; aber da es geschehen, sehe ich darin, wie gesagt, einen Finger Gottes, der unsere Feinde in unsern Schutz treibt. Wenn aus jener Zeit jeder Einzelne seine Erlebnisse verzeichnete, gut oder schlecht, so würde dies für den spätern Geschichtsschreiber ein unschätzbares Material abgeben. Nie und nimmer hat die Weltgeschichte ein Beispiel davon geboten, wie auf dem ganzen Continent Europa's ein mit ungeheuren Kosten ein Menschenalter hindurch aufgebautes und dem Anschein nach festes Material zusammenbrach. Es war, als wenn alle Gewalt an Einem Tage wie durch einen elektrischen Schlag gelähmt an den Boden geworfen wäre, und die Welt sah erstaunt, daß sie ohne Regierung war. Die Feigheit der Beamten überstieg alles Maß. Polizeidirigenten liefen in die Wälder, Bürgermeister bekamen Fußtritte; bis zu den höchsten Beamten hinauf flüchteten Einige in die ländliche Einsamkeit, Andere verkleidet, den rothen Regenschirm und Nachtsack unter dem Arm, suchten bei entlegenen Landwirthen ein gastliches Dach. Gutsbesitzer, die auf ein halbes Dutzend Erntewagen ihre fahrende Habe geworfen, suchten Schutz in der Stadt, und aus der Stadt liefen Andere hinaus, um auf dem Lande versteckt zu bleiben. Jeden Abend die Nachricht von einer neuen Revolution in dieser oder jener Residenz, und jedesmal ein Laufen und Gebahren, als wenn das Volk morden <TEI> <text> <body> <div> <p><pb facs="#f0041"/> obwohl du die Sache angefangen hast. Wäre es nicht geschehen, so unterbliebe es vielleicht besser; aber da es geschehen, sehe ich darin, wie gesagt, einen Finger Gottes, der unsere Feinde in unsern Schutz treibt.</p><lb/> <p>Wenn aus jener Zeit jeder Einzelne seine Erlebnisse verzeichnete, gut oder schlecht, so würde dies für den spätern Geschichtsschreiber ein unschätzbares Material abgeben. Nie und nimmer hat die Weltgeschichte ein Beispiel davon geboten, wie auf dem ganzen Continent Europa's ein mit ungeheuren Kosten ein Menschenalter hindurch aufgebautes und dem Anschein nach festes Material zusammenbrach. Es war, als wenn alle Gewalt an Einem Tage wie durch einen elektrischen Schlag gelähmt an den Boden geworfen wäre, und die Welt sah erstaunt, daß sie ohne Regierung war. Die Feigheit der Beamten überstieg alles Maß. Polizeidirigenten liefen in die Wälder, Bürgermeister bekamen Fußtritte; bis zu den höchsten Beamten hinauf flüchteten Einige in die ländliche Einsamkeit, Andere verkleidet, den rothen Regenschirm und Nachtsack unter dem Arm, suchten bei entlegenen Landwirthen ein gastliches Dach. Gutsbesitzer, die auf ein halbes Dutzend Erntewagen ihre fahrende Habe geworfen, suchten Schutz in der Stadt, und aus der Stadt liefen Andere hinaus, um auf dem Lande versteckt zu bleiben.</p><lb/> <p>Jeden Abend die Nachricht von einer neuen Revolution in dieser oder jener Residenz, und jedesmal ein Laufen und Gebahren, als wenn das Volk morden<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0041]
obwohl du die Sache angefangen hast. Wäre es nicht geschehen, so unterbliebe es vielleicht besser; aber da es geschehen, sehe ich darin, wie gesagt, einen Finger Gottes, der unsere Feinde in unsern Schutz treibt.
Wenn aus jener Zeit jeder Einzelne seine Erlebnisse verzeichnete, gut oder schlecht, so würde dies für den spätern Geschichtsschreiber ein unschätzbares Material abgeben. Nie und nimmer hat die Weltgeschichte ein Beispiel davon geboten, wie auf dem ganzen Continent Europa's ein mit ungeheuren Kosten ein Menschenalter hindurch aufgebautes und dem Anschein nach festes Material zusammenbrach. Es war, als wenn alle Gewalt an Einem Tage wie durch einen elektrischen Schlag gelähmt an den Boden geworfen wäre, und die Welt sah erstaunt, daß sie ohne Regierung war. Die Feigheit der Beamten überstieg alles Maß. Polizeidirigenten liefen in die Wälder, Bürgermeister bekamen Fußtritte; bis zu den höchsten Beamten hinauf flüchteten Einige in die ländliche Einsamkeit, Andere verkleidet, den rothen Regenschirm und Nachtsack unter dem Arm, suchten bei entlegenen Landwirthen ein gastliches Dach. Gutsbesitzer, die auf ein halbes Dutzend Erntewagen ihre fahrende Habe geworfen, suchten Schutz in der Stadt, und aus der Stadt liefen Andere hinaus, um auf dem Lande versteckt zu bleiben.
Jeden Abend die Nachricht von einer neuen Revolution in dieser oder jener Residenz, und jedesmal ein Laufen und Gebahren, als wenn das Volk morden
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Zitationshilfe: | Ziegler, Franz Wilhelm: Saat und Ernte. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 24. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 129–196. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ziegler_ernte_1910/41>, abgerufen am 16.02.2025. |