Ziegler, Franz Wilhelm: Saat und Ernte. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 24. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 129–196. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Weise prüfen wolltest, würde ich es dir verboten haben; nun es geschehen, erkenne ich darin eine höhere Hand. Darum laß den Brief abgehen; ich werde sorgen, daß das Mädchen in ihrem Mitleid nicht zu weit geht und uns in Verlegenheit bringt. -- Mitleid! sagte der Schmied. Schönes Mitleid, das das Zuchthaus des Vaters vergessen kann! -- Reize mich nicht noch mehr! Wenn sie kommen, werde ich die Leute in ihrer Schwäche sehen und erkennen, ob an ihnen Besserung möglich ist. -- Also in ihrer Schwäche willst du sie sehen? Nachbar! Nachbar! hüte dich vor der Schlange, der du nicht den Kopf zertratest, als du es konntest. Hast du ihnen geholfen, dann sei sicher, daß sie dich erst recht verfolgen. -- Das kann sein, sagte der Müller, aber ich kann nicht anders; ich kann selbst meinen Feind nicht ausliefern, wenn er unter mein Dach flüchtet. -- Auch wenn er hofft, dich nicht unter deinem Dach zu finden? -- Auch dann nicht! ich sehe immer mehr, daß der Lehrer, den wir für verrückt hielten, ein Weiser war; er hat mir erzählt, daß selbst bei Wilden das Dach den Feind schütze. Dach hin, Dach her! rief der Schmied, ich will dir nicht entgegen sein; aber ich werde dich in nichts unterstützen. -- Das verlange ich auch nicht, sagte der Müller, Weise prüfen wolltest, würde ich es dir verboten haben; nun es geschehen, erkenne ich darin eine höhere Hand. Darum laß den Brief abgehen; ich werde sorgen, daß das Mädchen in ihrem Mitleid nicht zu weit geht und uns in Verlegenheit bringt. — Mitleid! sagte der Schmied. Schönes Mitleid, das das Zuchthaus des Vaters vergessen kann! — Reize mich nicht noch mehr! Wenn sie kommen, werde ich die Leute in ihrer Schwäche sehen und erkennen, ob an ihnen Besserung möglich ist. — Also in ihrer Schwäche willst du sie sehen? Nachbar! Nachbar! hüte dich vor der Schlange, der du nicht den Kopf zertratest, als du es konntest. Hast du ihnen geholfen, dann sei sicher, daß sie dich erst recht verfolgen. — Das kann sein, sagte der Müller, aber ich kann nicht anders; ich kann selbst meinen Feind nicht ausliefern, wenn er unter mein Dach flüchtet. — Auch wenn er hofft, dich nicht unter deinem Dach zu finden? — Auch dann nicht! ich sehe immer mehr, daß der Lehrer, den wir für verrückt hielten, ein Weiser war; er hat mir erzählt, daß selbst bei Wilden das Dach den Feind schütze. Dach hin, Dach her! rief der Schmied, ich will dir nicht entgegen sein; aber ich werde dich in nichts unterstützen. — Das verlange ich auch nicht, sagte der Müller, <TEI> <text> <body> <div> <p><pb facs="#f0040"/> Weise prüfen wolltest, würde ich es dir verboten haben; nun es geschehen, erkenne ich darin eine höhere Hand. Darum laß den Brief abgehen; ich werde sorgen, daß das Mädchen in ihrem Mitleid nicht zu weit geht und uns in Verlegenheit bringt. —</p><lb/> <p>Mitleid! sagte der Schmied. Schönes Mitleid, das das Zuchthaus des Vaters vergessen kann! —</p><lb/> <p>Reize mich nicht noch mehr! Wenn sie kommen, werde ich die Leute in ihrer Schwäche sehen und erkennen, ob an ihnen Besserung möglich ist. —</p><lb/> <p>Also in ihrer Schwäche willst du sie sehen? Nachbar! Nachbar! hüte dich vor der Schlange, der du nicht den Kopf zertratest, als du es konntest. Hast du ihnen geholfen, dann sei sicher, daß sie dich erst recht verfolgen. —</p><lb/> <p>Das kann sein, sagte der Müller, aber ich kann nicht anders; ich kann selbst meinen Feind nicht ausliefern, wenn er unter mein Dach flüchtet. —</p><lb/> <p>Auch wenn er hofft, dich nicht unter deinem Dach zu finden? —</p><lb/> <p>Auch dann nicht! ich sehe immer mehr, daß der Lehrer, den wir für verrückt hielten, ein Weiser war; er hat mir erzählt, daß selbst bei Wilden das Dach den Feind schütze.</p><lb/> <p>Dach hin, Dach her! rief der Schmied, ich will dir nicht entgegen sein; aber ich werde dich in nichts unterstützen. —</p><lb/> <p>Das verlange ich auch nicht, sagte der Müller,<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0040]
Weise prüfen wolltest, würde ich es dir verboten haben; nun es geschehen, erkenne ich darin eine höhere Hand. Darum laß den Brief abgehen; ich werde sorgen, daß das Mädchen in ihrem Mitleid nicht zu weit geht und uns in Verlegenheit bringt. —
Mitleid! sagte der Schmied. Schönes Mitleid, das das Zuchthaus des Vaters vergessen kann! —
Reize mich nicht noch mehr! Wenn sie kommen, werde ich die Leute in ihrer Schwäche sehen und erkennen, ob an ihnen Besserung möglich ist. —
Also in ihrer Schwäche willst du sie sehen? Nachbar! Nachbar! hüte dich vor der Schlange, der du nicht den Kopf zertratest, als du es konntest. Hast du ihnen geholfen, dann sei sicher, daß sie dich erst recht verfolgen. —
Das kann sein, sagte der Müller, aber ich kann nicht anders; ich kann selbst meinen Feind nicht ausliefern, wenn er unter mein Dach flüchtet. —
Auch wenn er hofft, dich nicht unter deinem Dach zu finden? —
Auch dann nicht! ich sehe immer mehr, daß der Lehrer, den wir für verrückt hielten, ein Weiser war; er hat mir erzählt, daß selbst bei Wilden das Dach den Feind schütze.
Dach hin, Dach her! rief der Schmied, ich will dir nicht entgegen sein; aber ich werde dich in nichts unterstützen. —
Das verlange ich auch nicht, sagte der Müller,
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