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Ziegler, Franz Wilhelm: Saat und Ernte. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 24. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 129–196. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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nicht romantisch und finden nichts naturgemäßer, als daß die Ehe auf der soliden Grundlage des Auskommens erbaut werde. Marie jedoch hatte sich sichtlich verändert; sie war blasser geworden, man hatte sie zuweilen mit verweinten Augen betroffen; und wenn den Actuar Geschäfte in das Dorf oder gar in die Mühle riefen, so hatte sie ihn ängstlich vermieden. Daß er schlecht sein könne, war ihr nie in den Sinn gekommen; es war daher natürlich, daß sie ihn noch liebte und jedes neue Gerücht von einer anderweitigen Verlobung desselben mit Herzklopfen aufnahm. Seinen Charakter zu ergründen, war überhaupt schwer, zumal für ein liebendes Herz. Denn der junge Mann vermied überall ein scharfes persönliches Hervortreten, und wenn sich in den Stiftsdörfern die polizeilichen Quälereien und Untersuchungen mehrten, so war doch nie nachzuweisen, daß er dabei die Hand im Spiele habe, obwohl tiefer Blickende eine Veränderung an dem Justizrath bemerken wollten, seitdem gerade der Actuar bei ihm sei. Aufgefallen war besonders, daß, wenn Jemand einen Streit mit ihm gehabt, er nie unterlassen hatte, sich wieder zu versöhnen, daß aber nicht lange darauf der Gerichtsdiener, der Gensdarm oder sonst Jemand irgend etwas zur Sprache gebracht hatte, was den versöhnten Freund in Verlegenheit brachte. Geschenke aller Art nahm er gern, war gefällig, und man hielt zuletzt Geschenke für nothwendig, um diese Gefälligkeit und schnelle Abfertigung zu ermöglichen. So hatte sich zuletzt gegen

nicht romantisch und finden nichts naturgemäßer, als daß die Ehe auf der soliden Grundlage des Auskommens erbaut werde. Marie jedoch hatte sich sichtlich verändert; sie war blasser geworden, man hatte sie zuweilen mit verweinten Augen betroffen; und wenn den Actuar Geschäfte in das Dorf oder gar in die Mühle riefen, so hatte sie ihn ängstlich vermieden. Daß er schlecht sein könne, war ihr nie in den Sinn gekommen; es war daher natürlich, daß sie ihn noch liebte und jedes neue Gerücht von einer anderweitigen Verlobung desselben mit Herzklopfen aufnahm. Seinen Charakter zu ergründen, war überhaupt schwer, zumal für ein liebendes Herz. Denn der junge Mann vermied überall ein scharfes persönliches Hervortreten, und wenn sich in den Stiftsdörfern die polizeilichen Quälereien und Untersuchungen mehrten, so war doch nie nachzuweisen, daß er dabei die Hand im Spiele habe, obwohl tiefer Blickende eine Veränderung an dem Justizrath bemerken wollten, seitdem gerade der Actuar bei ihm sei. Aufgefallen war besonders, daß, wenn Jemand einen Streit mit ihm gehabt, er nie unterlassen hatte, sich wieder zu versöhnen, daß aber nicht lange darauf der Gerichtsdiener, der Gensdarm oder sonst Jemand irgend etwas zur Sprache gebracht hatte, was den versöhnten Freund in Verlegenheit brachte. Geschenke aller Art nahm er gern, war gefällig, und man hielt zuletzt Geschenke für nothwendig, um diese Gefälligkeit und schnelle Abfertigung zu ermöglichen. So hatte sich zuletzt gegen

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[0020] nicht romantisch und finden nichts naturgemäßer, als daß die Ehe auf der soliden Grundlage des Auskommens erbaut werde. Marie jedoch hatte sich sichtlich verändert; sie war blasser geworden, man hatte sie zuweilen mit verweinten Augen betroffen; und wenn den Actuar Geschäfte in das Dorf oder gar in die Mühle riefen, so hatte sie ihn ängstlich vermieden. Daß er schlecht sein könne, war ihr nie in den Sinn gekommen; es war daher natürlich, daß sie ihn noch liebte und jedes neue Gerücht von einer anderweitigen Verlobung desselben mit Herzklopfen aufnahm. Seinen Charakter zu ergründen, war überhaupt schwer, zumal für ein liebendes Herz. Denn der junge Mann vermied überall ein scharfes persönliches Hervortreten, und wenn sich in den Stiftsdörfern die polizeilichen Quälereien und Untersuchungen mehrten, so war doch nie nachzuweisen, daß er dabei die Hand im Spiele habe, obwohl tiefer Blickende eine Veränderung an dem Justizrath bemerken wollten, seitdem gerade der Actuar bei ihm sei. Aufgefallen war besonders, daß, wenn Jemand einen Streit mit ihm gehabt, er nie unterlassen hatte, sich wieder zu versöhnen, daß aber nicht lange darauf der Gerichtsdiener, der Gensdarm oder sonst Jemand irgend etwas zur Sprache gebracht hatte, was den versöhnten Freund in Verlegenheit brachte. Geschenke aller Art nahm er gern, war gefällig, und man hielt zuletzt Geschenke für nothwendig, um diese Gefälligkeit und schnelle Abfertigung zu ermöglichen. So hatte sich zuletzt gegen

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T14:10:09Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T14:10:09Z)

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Zitationshilfe: Ziegler, Franz Wilhelm: Saat und Ernte. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 24. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 129–196. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ziegler_ernte_1910/20>, abgerufen am 29.03.2024.