Sahn sein erhabnes Lied, und sahn es neidisch an, Und zitterten vor Furcht, dem Britten sich zu nahn. Selinde lebte noch in unschuldsvollen Jahren. Von Stutzern unbesiegt, im Lieben unerfahren, Genoß sie still der Zeit, da man bereits zwar liebt, Doch noch der Neigung nicht den Namen Liebe giebt. Unwissend siegte sie mit ungezwungnen Blicken. Sie gab sich keine Müh, die Herzen zu entzücken. Und sie entzückte sie. Sie floh vor jedermann, Und auch in ihrem Fliehn ward man ihr unterthan. Allein so sanft und hold auch ihre Schönheit stralte, So lieblich die Natur auch ihre Wangen malte; So sehr betrog sie doch mit lieblicher Gestalt. Jhr unempfindlich Herz schien zärtlich, und blieb kalt. Zwar ward ihr braunes Haar vom Puder nie bereifet;
Nie
Verwandlungen.
Sahn ſein erhabnes Lied, und ſahn es neidiſch an, Und zitterten vor Furcht, dem Britten ſich zu nahn. Selinde lebte noch in unſchuldsvollen Jahren. Von Stutzern unbeſiegt, im Lieben unerfahren, Genoß ſie ſtill der Zeit, da man bereits zwar liebt, Doch noch der Neigung nicht den Namen Liebe giebt. Unwiſſend ſiegte ſie mit ungezwungnen Blicken. Sie gab ſich keine Muͤh, die Herzen zu entzuͤcken. Und ſie entzuͤckte ſie. Sie floh vor jedermann, Und auch in ihrem Fliehn ward man ihr unterthan. Allein ſo ſanft und hold auch ihre Schoͤnheit ſtralte, So lieblich die Natur auch ihre Wangen malte; So ſehr betrog ſie doch mit lieblicher Geſtalt. Jhr unempfindlich Herz ſchien zaͤrtlich, und blieb kalt. Zwar ward ihr braunes Haar vom Puder nie bereifet;
Nie
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Verwandlungen.
Sahn ſein erhabnes Lied, und ſahn es neidiſch an,
Und zitterten vor Furcht, dem Britten ſich zu nahn.
Selinde lebte noch in unſchuldsvollen Jahren.
Von Stutzern unbeſiegt, im Lieben unerfahren,
Genoß ſie ſtill der Zeit, da man bereits zwar liebt,
Doch noch der Neigung nicht den Namen Liebe giebt.
Unwiſſend ſiegte ſie mit ungezwungnen Blicken.
Sie gab ſich keine Muͤh, die Herzen zu entzuͤcken.
Und ſie entzuͤckte ſie. Sie floh vor jedermann,
Und auch in ihrem Fliehn ward man ihr unterthan.
Allein ſo ſanft und hold auch ihre Schoͤnheit ſtralte,
So lieblich die Natur auch ihre Wangen malte;
So ſehr betrog ſie doch mit lieblicher Geſtalt.
Jhr unempfindlich Herz ſchien zaͤrtlich, und blieb kalt.
Zwar ward ihr braunes Haar vom Puder nie bereifet;
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Zachariae, Justus Friedrich Wilhelm: Poetische Schriften. Bd. 1. [Braunschweig], [1763], S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zachariae_schriften01_1763/224>, abgerufen am 21.11.2024.
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