Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.

Bild:
<< vorherige Seite
§ 18. Psychische Zustände.

9a. Die Theorie von Schlaf, Traum und Hypnose ist dem-
nach eigentlich eine physiologische Aufgabe. Neben der
allgemeinen Voraussetzung der Functionshemmung gewisser Theile
der Großhirnrinde und der Functionssteigerung anderer, die wir
den psychischen Symptomen entnehmen, lässt sich aber hier vor-
läufig nur ein allgemeines neurologisches Princip mit einiger
Wahrscheinlichkeit verwerthen, nämlich das Princip der Com-
pensation der Functionen
, wonach sich die Functions-
hemmung eines bestimmten Centralgebietes mit einer Functions-
steigerung anderer, in Wechselbeziehung stehender Gebiete ver-
bindet. Diese Wechselbeziehung kann dann wieder theils eine
directe, neurodynamische, theils eine indirecte, vasomoto-
rische
, sein. Die erstere beruht muthmaßlich darauf, dass die
durch die Functionshemmung angehäufte Energie durch die ner-
vösen Verbindungen nach andern Centralgebieten abfließt; die
zweite beruht darauf, dass eine Functionshemmung von Ver-
engerung der kleinsten Blutgefäße und diese von compensato-
rischer Erweiterung der Gefäße anderer Gebiete, der erhöhte
Blutzufluss aber wieder von Functionssteigerung begleitet ist.

Traum und Hypnose sind häufig, und zum Theil sogar bei
Psychologen, Gegenstände mystischer und phantastischer Hypo-
thesen gewesen. Man redete von einer gesteigerten Seelenthätig-
keit im Traum, von geistigen Fernewirkungen in Traum und
Hypnose. Besonders der Hypnotismus ist in dieser Beziehung
noch in neuerer Zeit zur Stütze abergläubischer spiritistischer
Vorstellungen verwendet worden. Dabei wirkten schon bei dem
durchaus auf Suggestion und Hypnose zurückzuführenden "thie-
rischen Magnetismus" und "Somnambulismus" vielfach Selbst-
täuschungen und absichtliche Täuschungen zusammen. In Wirk-
lichkeit ist alles, was bei diesen Erscheinungen der exacten Prüfung
standhält, ohne Schwierigkeit im allgemeinen psychologisch und
physiologisch erklärbar; was aber nicht auf diesem Wege er-
klärbar ist, das hat sich noch stets bei näherer Prüfung als aber-
gläubische Selbsttäuschung oder als absichtlicher Betrug erwiesen.

21*
§ 18. Psychische Zustände.

9a. Die Theorie von Schlaf, Traum und Hypnose ist dem-
nach eigentlich eine physiologische Aufgabe. Neben der
allgemeinen Voraussetzung der Functionshemmung gewisser Theile
der Großhirnrinde und der Functionssteigerung anderer, die wir
den psychischen Symptomen entnehmen, lässt sich aber hier vor-
läufig nur ein allgemeines neurologisches Princip mit einiger
Wahrscheinlichkeit verwerthen, nämlich das Princip der Com-
pensation der Functionen
, wonach sich die Functions-
hemmung eines bestimmten Centralgebietes mit einer Functions-
steigerung anderer, in Wechselbeziehung stehender Gebiete ver-
bindet. Diese Wechselbeziehung kann dann wieder theils eine
directe, neurodynamische, theils eine indirecte, vasomoto-
rische
, sein. Die erstere beruht muthmaßlich darauf, dass die
durch die Functionshemmung angehäufte Energie durch die ner-
vösen Verbindungen nach andern Centralgebieten abfließt; die
zweite beruht darauf, dass eine Functionshemmung von Ver-
engerung der kleinsten Blutgefäße und diese von compensato-
rischer Erweiterung der Gefäße anderer Gebiete, der erhöhte
Blutzufluss aber wieder von Functionssteigerung begleitet ist.

Traum und Hypnose sind häufig, und zum Theil sogar bei
Psychologen, Gegenstände mystischer und phantastischer Hypo-
thesen gewesen. Man redete von einer gesteigerten Seelenthätig-
keit im Traum, von geistigen Fernewirkungen in Traum und
Hypnose. Besonders der Hypnotismus ist in dieser Beziehung
noch in neuerer Zeit zur Stütze abergläubischer spiritistischer
Vorstellungen verwendet worden. Dabei wirkten schon bei dem
durchaus auf Suggestion und Hypnose zurückzuführenden »thie-
rischen Magnetismus« und »Somnambulismus« vielfach Selbst-
täuschungen und absichtliche Täuschungen zusammen. In Wirk-
lichkeit ist alles, was bei diesen Erscheinungen der exacten Prüfung
standhält, ohne Schwierigkeit im allgemeinen psychologisch und
physiologisch erklärbar; was aber nicht auf diesem Wege er-
klärbar ist, das hat sich noch stets bei näherer Prüfung als aber-
gläubische Selbsttäuschung oder als absichtlicher Betrug erwiesen.

21*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0339" n="323"/>
          <fw place="top" type="header">§ 18. Psychische Zustände.</fw><lb/>
          <p>9a. Die Theorie von Schlaf, Traum und Hypnose ist dem-<lb/>
nach eigentlich eine <hi rendition="#g">physiologische</hi> Aufgabe. Neben der<lb/>
allgemeinen Voraussetzung der Functionshemmung gewisser Theile<lb/>
der Großhirnrinde und der Functionssteigerung anderer, die wir<lb/>
den psychischen Symptomen entnehmen, lässt sich aber hier vor-<lb/>
läufig nur ein allgemeines neurologisches Princip mit einiger<lb/>
Wahrscheinlichkeit verwerthen, nämlich das Princip der <hi rendition="#g">Com-<lb/>
pensation der Functionen</hi>, wonach sich die Functions-<lb/>
hemmung eines bestimmten Centralgebietes mit einer Functions-<lb/>
steigerung anderer, in Wechselbeziehung stehender Gebiete ver-<lb/>
bindet. Diese Wechselbeziehung kann dann wieder theils eine<lb/>
directe, <hi rendition="#g">neurodynamische</hi>, theils eine indirecte, <hi rendition="#g">vasomoto-<lb/>
rische</hi>, sein. Die erstere beruht muthmaßlich darauf, dass die<lb/>
durch die Functionshemmung angehäufte Energie durch die ner-<lb/>
vösen Verbindungen nach andern Centralgebieten abfließt; die<lb/>
zweite beruht darauf, dass eine Functionshemmung von Ver-<lb/>
engerung der kleinsten Blutgefäße und diese von compensato-<lb/>
rischer Erweiterung der Gefäße anderer Gebiete, der erhöhte<lb/>
Blutzufluss aber wieder von Functionssteigerung begleitet ist.</p><lb/>
          <p>Traum und Hypnose sind häufig, und zum Theil sogar bei<lb/>
Psychologen, Gegenstände mystischer und phantastischer Hypo-<lb/>
thesen gewesen. Man redete von einer gesteigerten Seelenthätig-<lb/>
keit im Traum, von geistigen Fernewirkungen in Traum und<lb/>
Hypnose. Besonders der Hypnotismus ist in dieser Beziehung<lb/>
noch in neuerer Zeit zur Stütze abergläubischer spiritistischer<lb/>
Vorstellungen verwendet worden. Dabei wirkten schon bei dem<lb/>
durchaus auf Suggestion und Hypnose zurückzuführenden »thie-<lb/>
rischen Magnetismus« und »Somnambulismus« vielfach Selbst-<lb/>
täuschungen und absichtliche Täuschungen zusammen. In Wirk-<lb/>
lichkeit ist alles, was bei diesen Erscheinungen der exacten Prüfung<lb/>
standhält, ohne Schwierigkeit im allgemeinen psychologisch und<lb/>
physiologisch erklärbar; was aber nicht auf diesem Wege er-<lb/>
klärbar ist, das hat sich noch stets bei näherer Prüfung als aber-<lb/>
gläubische Selbsttäuschung oder als absichtlicher Betrug erwiesen.</p>
        </div>
      </div><lb/>
      <fw place="bottom" type="sig">21*</fw><lb/>
    </body>
  </text>
</TEI>
[323/0339] § 18. Psychische Zustände. 9a. Die Theorie von Schlaf, Traum und Hypnose ist dem- nach eigentlich eine physiologische Aufgabe. Neben der allgemeinen Voraussetzung der Functionshemmung gewisser Theile der Großhirnrinde und der Functionssteigerung anderer, die wir den psychischen Symptomen entnehmen, lässt sich aber hier vor- läufig nur ein allgemeines neurologisches Princip mit einiger Wahrscheinlichkeit verwerthen, nämlich das Princip der Com- pensation der Functionen, wonach sich die Functions- hemmung eines bestimmten Centralgebietes mit einer Functions- steigerung anderer, in Wechselbeziehung stehender Gebiete ver- bindet. Diese Wechselbeziehung kann dann wieder theils eine directe, neurodynamische, theils eine indirecte, vasomoto- rische, sein. Die erstere beruht muthmaßlich darauf, dass die durch die Functionshemmung angehäufte Energie durch die ner- vösen Verbindungen nach andern Centralgebieten abfließt; die zweite beruht darauf, dass eine Functionshemmung von Ver- engerung der kleinsten Blutgefäße und diese von compensato- rischer Erweiterung der Gefäße anderer Gebiete, der erhöhte Blutzufluss aber wieder von Functionssteigerung begleitet ist. Traum und Hypnose sind häufig, und zum Theil sogar bei Psychologen, Gegenstände mystischer und phantastischer Hypo- thesen gewesen. Man redete von einer gesteigerten Seelenthätig- keit im Traum, von geistigen Fernewirkungen in Traum und Hypnose. Besonders der Hypnotismus ist in dieser Beziehung noch in neuerer Zeit zur Stütze abergläubischer spiritistischer Vorstellungen verwendet worden. Dabei wirkten schon bei dem durchaus auf Suggestion und Hypnose zurückzuführenden »thie- rischen Magnetismus« und »Somnambulismus« vielfach Selbst- täuschungen und absichtliche Täuschungen zusammen. In Wirk- lichkeit ist alles, was bei diesen Erscheinungen der exacten Prüfung standhält, ohne Schwierigkeit im allgemeinen psychologisch und physiologisch erklärbar; was aber nicht auf diesem Wege er- klärbar ist, das hat sich noch stets bei näherer Prüfung als aber- gläubische Selbsttäuschung oder als absichtlicher Betrug erwiesen. 21*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/339
Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 323. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/339>, abgerufen am 24.11.2024.