Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.

Bild:
<< vorherige Seite

§ 15. Bewusstsein und Aufmerksamkeit.
auf die constante Vorstellungsgrundlage, die jene subjectiven
Processe in dem den Träger der Gemeinempfindungen bil-
denden Körper des Individuums besitzen. Dabei ist aber
die weiteste Bedeutung in der wirklichen Entwicklung die
ursprünglichste, und die engste fällt, weil sie eigentlich nur
in der begrifflichen Abstraction vollständig erreichbar ist,
in dem wirklichen Fluss des psychischen Geschehens immer
wieder in eine der weiteren Bedeutungen zurück. Sie bildet
auf diese Weise eigentlich nur eine Grenze, der sich die
reale Selbstauffassung des Subjectes in wechselndem Grade
nähern kann.

12a. Mit der Unterscheidung des Subjectes und der Objecte
oder, wie man diese Begriffe durch Reduction des ersten auf
seine ursprüngliche Gefühlsgrundlage und durch Zusammenfassung
des zweiten in einen generellen Begriff auch auszudrücken pflegt,
des Ich und der Außenwelt, ist erst die Grundlage zu allen
jenen Ueberlegungen gegeben, denen der zunächst in der popu-
lären Weltanschauung verbreitete und dann aus ihr in die philo-
sophischen Systeme übergegangene Dualismus seinen Ursprung
verdankt. In diesem Sinne pflegt dann auch die Psychologie
selbst als die Wissenschaft von dem Subject den andern Wissen-
schaften und speciell den Naturwissenschaften gegenübergestellt
zu werden. (Vgl. § 1, 3a.) Diese Auffassung könnte nur dann
richtig sein, wenn die Unterscheidung des Ich von der Außenwelt
eine aller Erfahrung vorausgehende Urthatsache wäre, und wenn
die Begriffe des Subjectes und der Objecte einander ein für
allemal eindeutig gegenübergestellt werden könnten. Weder das
erste noch das zweite trifft aber zu. Das Selbstbewusstsein ruht
vielmehr auf einer Reihe psychischer Processe: es ist ein Er-
zeugniss, nicht die Grundlage dieser Processe; und demzufolge
bilden auch Subject und Objecte weder ursprünglich noch über-
haupt jemals absolut von einander verschiedene Erfahrungsinhalte,
sondern sie sind Reflexionsbegriffe, die in Folge der Wechselbe-
ziehungen der einzelnen Bestandtheile des an sich vollkommen
einheitlichen Inhaltes unserer unmittelbaren Erfahrung sich aus-
bilden.

§ 15. Bewusstsein und Aufmerksamkeit.
auf die constante Vorstellungsgrundlage, die jene subjectiven
Processe in dem den Träger der Gemeinempfindungen bil-
denden Körper des Individuums besitzen. Dabei ist aber
die weiteste Bedeutung in der wirklichen Entwicklung die
ursprünglichste, und die engste fällt, weil sie eigentlich nur
in der begrifflichen Abstraction vollständig erreichbar ist,
in dem wirklichen Fluss des psychischen Geschehens immer
wieder in eine der weiteren Bedeutungen zurück. Sie bildet
auf diese Weise eigentlich nur eine Grenze, der sich die
reale Selbstauffassung des Subjectes in wechselndem Grade
nähern kann.

12a. Mit der Unterscheidung des Subjectes und der Objecte
oder, wie man diese Begriffe durch Reduction des ersten auf
seine ursprüngliche Gefühlsgrundlage und durch Zusammenfassung
des zweiten in einen generellen Begriff auch auszudrücken pflegt,
des Ich und der Außenwelt, ist erst die Grundlage zu allen
jenen Ueberlegungen gegeben, denen der zunächst in der popu-
lären Weltanschauung verbreitete und dann aus ihr in die philo-
sophischen Systeme übergegangene Dualismus seinen Ursprung
verdankt. In diesem Sinne pflegt dann auch die Psychologie
selbst als die Wissenschaft von dem Subject den andern Wissen-
schaften und speciell den Naturwissenschaften gegenübergestellt
zu werden. (Vgl. § 1, 3a.) Diese Auffassung könnte nur dann
richtig sein, wenn die Unterscheidung des Ich von der Außenwelt
eine aller Erfahrung vorausgehende Urthatsache wäre, und wenn
die Begriffe des Subjectes und der Objecte einander ein für
allemal eindeutig gegenübergestellt werden könnten. Weder das
erste noch das zweite trifft aber zu. Das Selbstbewusstsein ruht
vielmehr auf einer Reihe psychischer Processe: es ist ein Er-
zeugniss, nicht die Grundlage dieser Processe; und demzufolge
bilden auch Subject und Objecte weder ursprünglich noch über-
haupt jemals absolut von einander verschiedene Erfahrungsinhalte,
sondern sie sind Reflexionsbegriffe, die in Folge der Wechselbe-
ziehungen der einzelnen Bestandtheile des an sich vollkommen
einheitlichen Inhaltes unserer unmittelbaren Erfahrung sich aus-
bilden.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0277" n="261"/><fw place="top" type="header">§ 15. Bewusstsein und Aufmerksamkeit.</fw><lb/>
auf die constante Vorstellungsgrundlage, die jene subjectiven<lb/>
Processe in dem den Träger der Gemeinempfindungen bil-<lb/>
denden Körper des Individuums besitzen. Dabei ist aber<lb/>
die weiteste Bedeutung in der wirklichen Entwicklung die<lb/>
ursprünglichste, und die engste fällt, weil sie eigentlich nur<lb/>
in der begrifflichen Abstraction vollständig erreichbar ist,<lb/>
in dem wirklichen Fluss des psychischen Geschehens immer<lb/>
wieder in eine der weiteren Bedeutungen zurück. Sie bildet<lb/>
auf diese Weise eigentlich nur eine Grenze, der sich die<lb/>
reale Selbstauffassung des Subjectes in wechselndem Grade<lb/>
nähern kann.</p><lb/>
          <p>12a. Mit der Unterscheidung des Subjectes und der Objecte<lb/>
oder, wie man diese Begriffe durch Reduction des ersten auf<lb/>
seine ursprüngliche Gefühlsgrundlage und durch Zusammenfassung<lb/>
des zweiten in einen generellen Begriff auch auszudrücken pflegt,<lb/>
des <hi rendition="#g">Ich</hi> und der <hi rendition="#g">Außenwelt</hi>, ist erst die Grundlage zu allen<lb/>
jenen Ueberlegungen gegeben, denen der zunächst in der popu-<lb/>
lären Weltanschauung verbreitete und dann aus ihr in die philo-<lb/>
sophischen Systeme übergegangene Dualismus seinen Ursprung<lb/>
verdankt. In diesem Sinne pflegt dann auch die Psychologie<lb/>
selbst als die Wissenschaft von dem <hi rendition="#g">Subject</hi> den andern Wissen-<lb/>
schaften und speciell den Naturwissenschaften gegenübergestellt<lb/>
zu werden. (Vgl. § 1, 3a.) Diese Auffassung könnte nur dann<lb/>
richtig sein, wenn die Unterscheidung des Ich von der Außenwelt<lb/>
eine aller Erfahrung vorausgehende Urthatsache wäre, und wenn<lb/>
die Begriffe des Subjectes und der Objecte einander ein für<lb/>
allemal eindeutig gegenübergestellt werden könnten. Weder das<lb/>
erste noch das zweite trifft aber zu. Das Selbstbewusstsein ruht<lb/>
vielmehr auf einer Reihe psychischer Processe: es ist ein Er-<lb/>
zeugniss, nicht die Grundlage dieser Processe; und demzufolge<lb/>
bilden auch Subject und Objecte weder ursprünglich noch über-<lb/>
haupt jemals absolut von einander verschiedene Erfahrungsinhalte,<lb/>
sondern sie sind Reflexionsbegriffe, die in Folge der Wechselbe-<lb/>
ziehungen der einzelnen Bestandtheile des an sich vollkommen<lb/>
einheitlichen Inhaltes unserer unmittelbaren Erfahrung sich aus-<lb/>
bilden.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[261/0277] § 15. Bewusstsein und Aufmerksamkeit. auf die constante Vorstellungsgrundlage, die jene subjectiven Processe in dem den Träger der Gemeinempfindungen bil- denden Körper des Individuums besitzen. Dabei ist aber die weiteste Bedeutung in der wirklichen Entwicklung die ursprünglichste, und die engste fällt, weil sie eigentlich nur in der begrifflichen Abstraction vollständig erreichbar ist, in dem wirklichen Fluss des psychischen Geschehens immer wieder in eine der weiteren Bedeutungen zurück. Sie bildet auf diese Weise eigentlich nur eine Grenze, der sich die reale Selbstauffassung des Subjectes in wechselndem Grade nähern kann. 12a. Mit der Unterscheidung des Subjectes und der Objecte oder, wie man diese Begriffe durch Reduction des ersten auf seine ursprüngliche Gefühlsgrundlage und durch Zusammenfassung des zweiten in einen generellen Begriff auch auszudrücken pflegt, des Ich und der Außenwelt, ist erst die Grundlage zu allen jenen Ueberlegungen gegeben, denen der zunächst in der popu- lären Weltanschauung verbreitete und dann aus ihr in die philo- sophischen Systeme übergegangene Dualismus seinen Ursprung verdankt. In diesem Sinne pflegt dann auch die Psychologie selbst als die Wissenschaft von dem Subject den andern Wissen- schaften und speciell den Naturwissenschaften gegenübergestellt zu werden. (Vgl. § 1, 3a.) Diese Auffassung könnte nur dann richtig sein, wenn die Unterscheidung des Ich von der Außenwelt eine aller Erfahrung vorausgehende Urthatsache wäre, und wenn die Begriffe des Subjectes und der Objecte einander ein für allemal eindeutig gegenübergestellt werden könnten. Weder das erste noch das zweite trifft aber zu. Das Selbstbewusstsein ruht vielmehr auf einer Reihe psychischer Processe: es ist ein Er- zeugniss, nicht die Grundlage dieser Processe; und demzufolge bilden auch Subject und Objecte weder ursprünglich noch über- haupt jemals absolut von einander verschiedene Erfahrungsinhalte, sondern sie sind Reflexionsbegriffe, die in Folge der Wechselbe- ziehungen der einzelnen Bestandtheile des an sich vollkommen einheitlichen Inhaltes unserer unmittelbaren Erfahrung sich aus- bilden.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/277
Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 261. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/277>, abgerufen am 11.05.2024.