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Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.

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II. Die psychischen Gebilde.
Empfindungsgrundlage bleibt es doch die Eigenschaft des
Gemeingefühls, dass dieses der unmittelbare Ausdruck unseres
sinnlichen Wohl- oder Uebelbefindens und daher unter allen
zusammengesetzten Gefühlen den einfachen sinnlichen Ge-
fühlen am nächsten verwandt ist. Gesichts- und Gehörssinn
betheiligen sich dagegen nur ausnahmsweise, namentlich
bei ungewöhnlicher Intensität der Eindrücke, an dem Em-
pfindungssubstrat des Gemeingefühls.

4a. Das Gemeingefühl ist diejenige zusammengesetzte Ge-
fühlsform, bei der man zuerst die Verbindung aus Partialgefühlen
bemerkt, zugleich aber freilich die psychologische Gesetzmäßig-
keit dieser Verbindung durchaus verkannt und überdies in der in
der Physiologie üblichen Weise das Gefühl nicht von seiner Em-
pfindungsgrundlage unterschieden hat. So wird das Gemeingefühl
bald als das "Bewusstsein von unserm eigenen Empfindungs-
zustand" bald als "die Summe oder das ungesonderte Chaos von
Sensationen" definirt, welches uns von allen Theilen unseres
Körpers zugeführt werde. In der That entspringt das Gemein-
gefühl aus einer Vielheit von Partialgefühlen; aber es ist nicht
die bloße Summe dieser Gefühle, sondern ein aus ihnen resul-
tirendes einheitliches Totalgefühl. Zugleich ist es aber allerdings
ein Totalgefühl von der einfachst möglichen Structur, indem es
sich aus lauter Partialgefühlen erster Ordnung, nämlich aus ein-
zelnen sinnlichen Gefühlen, zusammensetzt, ohne dass dieselben
speciellere Verbindungen zu Partialgefühlen zweiter oder gar
höherer Ordnung einzugehen pflegen. Dabei pflegt in dem ent-
stehenden Producte ein einzelnes Partialgefühl vorherrschend zu
sein: dies ist regelmäßig dann der Fall, wenn eine sehr starke
örtliche Empfindung von Schmerzgefühl begleitet ist. Doch können
auch schwächere Empfindungen durch ihr relatives Uebergewicht
den herrschenden Gefühlston bestimmen: so besonders häufig die
Geruchs- und Geschmacksempfindungen oder auch gewisse an die
regelmäßige Function der Organe gebundene Empfindungen, wie
die die Gehbewegungen begleitenden inneren Tastempfindungen.
Häufig kann übrigens dies relative Uebergewicht einer einzelnen
Empfindung so schwach sein, dass erst die Aufmerksamkeit auf

II. Die psychischen Gebilde.
Empfindungsgrundlage bleibt es doch die Eigenschaft des
Gemeingefühls, dass dieses der unmittelbare Ausdruck unseres
sinnlichen Wohl- oder Uebelbefindens und daher unter allen
zusammengesetzten Gefühlen den einfachen sinnlichen Ge-
fühlen am nächsten verwandt ist. Gesichts- und Gehörssinn
betheiligen sich dagegen nur ausnahmsweise, namentlich
bei ungewöhnlicher Intensität der Eindrücke, an dem Em-
pfindungssubstrat des Gemeingefühls.

4a. Das Gemeingefühl ist diejenige zusammengesetzte Ge-
fühlsform, bei der man zuerst die Verbindung aus Partialgefühlen
bemerkt, zugleich aber freilich die psychologische Gesetzmäßig-
keit dieser Verbindung durchaus verkannt und überdies in der in
der Physiologie üblichen Weise das Gefühl nicht von seiner Em-
pfindungsgrundlage unterschieden hat. So wird das Gemeingefühl
bald als das »Bewusstsein von unserm eigenen Empfindungs-
zustand« bald als »die Summe oder das ungesonderte Chaos von
Sensationen« definirt, welches uns von allen Theilen unseres
Körpers zugeführt werde. In der That entspringt das Gemein-
gefühl aus einer Vielheit von Partialgefühlen; aber es ist nicht
die bloße Summe dieser Gefühle, sondern ein aus ihnen resul-
tirendes einheitliches Totalgefühl. Zugleich ist es aber allerdings
ein Totalgefühl von der einfachst möglichen Structur, indem es
sich aus lauter Partialgefühlen erster Ordnung, nämlich aus ein-
zelnen sinnlichen Gefühlen, zusammensetzt, ohne dass dieselben
speciellere Verbindungen zu Partialgefühlen zweiter oder gar
höherer Ordnung einzugehen pflegen. Dabei pflegt in dem ent-
stehenden Producte ein einzelnes Partialgefühl vorherrschend zu
sein: dies ist regelmäßig dann der Fall, wenn eine sehr starke
örtliche Empfindung von Schmerzgefühl begleitet ist. Doch können
auch schwächere Empfindungen durch ihr relatives Uebergewicht
den herrschenden Gefühlston bestimmen: so besonders häufig die
Geruchs- und Geschmacksempfindungen oder auch gewisse an die
regelmäßige Function der Organe gebundene Empfindungen, wie
die die Gehbewegungen begleitenden inneren Tastempfindungen.
Häufig kann übrigens dies relative Uebergewicht einer einzelnen
Empfindung so schwach sein, dass erst die Aufmerksamkeit auf

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[190/0206] II. Die psychischen Gebilde. Empfindungsgrundlage bleibt es doch die Eigenschaft des Gemeingefühls, dass dieses der unmittelbare Ausdruck unseres sinnlichen Wohl- oder Uebelbefindens und daher unter allen zusammengesetzten Gefühlen den einfachen sinnlichen Ge- fühlen am nächsten verwandt ist. Gesichts- und Gehörssinn betheiligen sich dagegen nur ausnahmsweise, namentlich bei ungewöhnlicher Intensität der Eindrücke, an dem Em- pfindungssubstrat des Gemeingefühls. 4a. Das Gemeingefühl ist diejenige zusammengesetzte Ge- fühlsform, bei der man zuerst die Verbindung aus Partialgefühlen bemerkt, zugleich aber freilich die psychologische Gesetzmäßig- keit dieser Verbindung durchaus verkannt und überdies in der in der Physiologie üblichen Weise das Gefühl nicht von seiner Em- pfindungsgrundlage unterschieden hat. So wird das Gemeingefühl bald als das »Bewusstsein von unserm eigenen Empfindungs- zustand« bald als »die Summe oder das ungesonderte Chaos von Sensationen« definirt, welches uns von allen Theilen unseres Körpers zugeführt werde. In der That entspringt das Gemein- gefühl aus einer Vielheit von Partialgefühlen; aber es ist nicht die bloße Summe dieser Gefühle, sondern ein aus ihnen resul- tirendes einheitliches Totalgefühl. Zugleich ist es aber allerdings ein Totalgefühl von der einfachst möglichen Structur, indem es sich aus lauter Partialgefühlen erster Ordnung, nämlich aus ein- zelnen sinnlichen Gefühlen, zusammensetzt, ohne dass dieselben speciellere Verbindungen zu Partialgefühlen zweiter oder gar höherer Ordnung einzugehen pflegen. Dabei pflegt in dem ent- stehenden Producte ein einzelnes Partialgefühl vorherrschend zu sein: dies ist regelmäßig dann der Fall, wenn eine sehr starke örtliche Empfindung von Schmerzgefühl begleitet ist. Doch können auch schwächere Empfindungen durch ihr relatives Uebergewicht den herrschenden Gefühlston bestimmen: so besonders häufig die Geruchs- und Geschmacksempfindungen oder auch gewisse an die regelmäßige Function der Organe gebundene Empfindungen, wie die die Gehbewegungen begleitenden inneren Tastempfindungen. Häufig kann übrigens dies relative Uebergewicht einer einzelnen Empfindung so schwach sein, dass erst die Aufmerksamkeit auf

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Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 190. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/206>, abgerufen am 06.05.2024.