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Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.

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II. Die psychischen Gebilde.
die auf eine ursprünglich gemeinsame Function des Doppelauges
hinweisende Lage der Orientirungslinie (S. 154) angeführt. Dass
die Metamorphopsien ebenso wie andere ihnen verwandte Er-
scheinungen, sobald die zu Grunde liegenden Veränderungen
stationär werden, das Gegentheil beweisen, ist oben bemerkt
worden (S. 141). Dass ferner die Lage der Orientirungslinie keine
ursprüngliche, sondern eine unter dem Einfluss der Bedingungen
des Sehens entstandene ist, bezeugt das bei länger dauerndem
monocularem Sehen erfolgende Zusammenfallen derselben mit der
Blicklinie des sehenden Auges (S. 154). Nicht minder spricht für
die genetische und gegen die nativistische Theorie die Thatsache,
dass sich beim menschlichen Kinde die Synergie der Augen-
bewegungen unter dem Einfluss der Lichtreize entwickelt, und
dass damit die Ausbildung der räumlichen Wahrnehmungen Hand
in Hand zu gehen scheint. In dieser wie in mancher andern Be-
ziehung verhält sich freilich die Entwicklung der meisten Thiere
insofern abweichend, als bei ihnen die reflectorischen Verbin-
dungen der Netzhauteindrücke mit den Augen- und Kopf-
bewegungen unmittelbar nach der Geburt schon vollkommen
functioniren. (Vgl. unten § 19, 2.)

Die genetische Theorie hat über die in älterer Zeit vor-
herrschenden nativistischen und empiristischen Anschauungen zu-
nächst in Folge des eindringenderen Studiums der Erscheinungen
des binocularen Sehens die Vorherrschaft gewonnen. Vom
Standpunkte des Nativismus aus macht namentlich die Frage,
warum wir die Gegenstände im allgemeinen einfach sehen, während
doch in jedem der beiden Augen Bilder derselben entworfen
werden, Schwierigkeiten. Man suchte diese zu umgehen, indem
man annahm, je zwei identisch gelegene Netzhautpunkte stünden
mit einer und derselben, im Chiasma des Sehnerven sich theilen-
den Opticusfaser in Verbindung und repräsentirten daher im Sen-
sorium nur einen einzigen Raumpunkt. Diese Lehre von der
"Identität der zwei Netzhäute" wurde aber unhaltbar, sobald
man sich über die wirklichen Bedingungen des binocularen
körperlichen Sehens Rechenschaft zu geben anfing. Namentlich
hat die Erfindung des Stereoskops auf diese Weise für die
genetische Auffassung des Sehens eine epochemachende Bedeutung
gewonnen.

II. Die psychischen Gebilde.
die auf eine ursprünglich gemeinsame Function des Doppelauges
hinweisende Lage der Orientirungslinie (S. 154) angeführt. Dass
die Metamorphopsien ebenso wie andere ihnen verwandte Er-
scheinungen, sobald die zu Grunde liegenden Veränderungen
stationär werden, das Gegentheil beweisen, ist oben bemerkt
worden (S. 141). Dass ferner die Lage der Orientirungslinie keine
ursprüngliche, sondern eine unter dem Einfluss der Bedingungen
des Sehens entstandene ist, bezeugt das bei länger dauerndem
monocularem Sehen erfolgende Zusammenfallen derselben mit der
Blicklinie des sehenden Auges (S. 154). Nicht minder spricht für
die genetische und gegen die nativistische Theorie die Thatsache,
dass sich beim menschlichen Kinde die Synergie der Augen-
bewegungen unter dem Einfluss der Lichtreize entwickelt, und
dass damit die Ausbildung der räumlichen Wahrnehmungen Hand
in Hand zu gehen scheint. In dieser wie in mancher andern Be-
ziehung verhält sich freilich die Entwicklung der meisten Thiere
insofern abweichend, als bei ihnen die reflectorischen Verbin-
dungen der Netzhauteindrücke mit den Augen- und Kopf-
bewegungen unmittelbar nach der Geburt schon vollkommen
functioniren. (Vgl. unten § 19, 2.)

Die genetische Theorie hat über die in älterer Zeit vor-
herrschenden nativistischen und empiristischen Anschauungen zu-
nächst in Folge des eindringenderen Studiums der Erscheinungen
des binocularen Sehens die Vorherrschaft gewonnen. Vom
Standpunkte des Nativismus aus macht namentlich die Frage,
warum wir die Gegenstände im allgemeinen einfach sehen, während
doch in jedem der beiden Augen Bilder derselben entworfen
werden, Schwierigkeiten. Man suchte diese zu umgehen, indem
man annahm, je zwei identisch gelegene Netzhautpunkte stünden
mit einer und derselben, im Chiasma des Sehnerven sich theilen-
den Opticusfaser in Verbindung und repräsentirten daher im Sen-
sorium nur einen einzigen Raumpunkt. Diese Lehre von der
»Identität der zwei Netzhäute« wurde aber unhaltbar, sobald
man sich über die wirklichen Bedingungen des binocularen
körperlichen Sehens Rechenschaft zu geben anfing. Namentlich
hat die Erfindung des Stereoskops auf diese Weise für die
genetische Auffassung des Sehens eine epochemachende Bedeutung
gewonnen.

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[166/0182] II. Die psychischen Gebilde. die auf eine ursprünglich gemeinsame Function des Doppelauges hinweisende Lage der Orientirungslinie (S. 154) angeführt. Dass die Metamorphopsien ebenso wie andere ihnen verwandte Er- scheinungen, sobald die zu Grunde liegenden Veränderungen stationär werden, das Gegentheil beweisen, ist oben bemerkt worden (S. 141). Dass ferner die Lage der Orientirungslinie keine ursprüngliche, sondern eine unter dem Einfluss der Bedingungen des Sehens entstandene ist, bezeugt das bei länger dauerndem monocularem Sehen erfolgende Zusammenfallen derselben mit der Blicklinie des sehenden Auges (S. 154). Nicht minder spricht für die genetische und gegen die nativistische Theorie die Thatsache, dass sich beim menschlichen Kinde die Synergie der Augen- bewegungen unter dem Einfluss der Lichtreize entwickelt, und dass damit die Ausbildung der räumlichen Wahrnehmungen Hand in Hand zu gehen scheint. In dieser wie in mancher andern Be- ziehung verhält sich freilich die Entwicklung der meisten Thiere insofern abweichend, als bei ihnen die reflectorischen Verbin- dungen der Netzhauteindrücke mit den Augen- und Kopf- bewegungen unmittelbar nach der Geburt schon vollkommen functioniren. (Vgl. unten § 19, 2.) Die genetische Theorie hat über die in älterer Zeit vor- herrschenden nativistischen und empiristischen Anschauungen zu- nächst in Folge des eindringenderen Studiums der Erscheinungen des binocularen Sehens die Vorherrschaft gewonnen. Vom Standpunkte des Nativismus aus macht namentlich die Frage, warum wir die Gegenstände im allgemeinen einfach sehen, während doch in jedem der beiden Augen Bilder derselben entworfen werden, Schwierigkeiten. Man suchte diese zu umgehen, indem man annahm, je zwei identisch gelegene Netzhautpunkte stünden mit einer und derselben, im Chiasma des Sehnerven sich theilen- den Opticusfaser in Verbindung und repräsentirten daher im Sen- sorium nur einen einzigen Raumpunkt. Diese Lehre von der »Identität der zwei Netzhäute« wurde aber unhaltbar, sobald man sich über die wirklichen Bedingungen des binocularen körperlichen Sehens Rechenschaft zu geben anfing. Namentlich hat die Erfindung des Stereoskops auf diese Weise für die genetische Auffassung des Sehens eine epochemachende Bedeutung gewonnen.

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Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/182>, abgerufen am 24.11.2024.