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Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.

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§ 10. Die räumlichen Vorstellungen.
nimmt. Aber bei geringeren Tiefenverschiebungen sind diese
Empfindungen sehr unsicher. Wenn man daher monocular
einen Punct fixirt, so wird eine Bewegung desselben in der
Richtung der Blicklinie meistens erst dann deutlich wahr-
genommen, wenn auch eine Veränderung in der Größe des
Netzhautbildes eingetreten ist.

35. Von überwiegender Bedeutung sind deshalb bei der
Ausbildung monocularer Körpervorstellungen die Einflüsse,
welche die Bestandtheile der sogenannten Perspective
ausüben, wie relative Größe des Gesichtswinkels, Verlauf
der Begrenzungslinien, Richtung der Schatten, Aenderung der
Farben durch atmosphärische Absorption u. s. w. Da alle
diese Einflüsse, die sich in ganz übereinstimmender Weise bei
monocularem wie bei binocularem Sehen geltend machen,
auf Vorstellungsassociationen beruhen, so wird aber
erst im folgenden Capitel (§ 16) auf sie einzugehen sein.

35a. In der Erklärung der Gesichtsvorstellungen stehen sich
im allgemeinen die nämlichen theoretischen Anschauungen gegen-
über, die uns bei der Theorie der Tastvorstellungen begegnet sind
(S. 134). Die empiristische Theorie hat hier in ihrer Beschränkung
auf das optische Gebiet zuweilen die Inconsequenz begangen, dass
sie das eigentliche Problem der Raumwahrnehmung dem Tastsinn
zuschob und sich demnach darauf beschränkte zu erörtern, wie
auf Grund bereits vorhandener räumlicher Tastvorstellungen eine
Localisation der Gesichtseindrücke mit Hülfe der Erfahrung zu
Stande komme. Eine solche Interpretation steht aber nicht nur
in einem innern Widerspruch mit sich selber, sondern sie wider-
spricht auch der Erfahrung, welche zeigt, dass beim sehenden
Menschen die räumlichen Wahrnehmungen des Gesichtssinns für
die des Tastsinns bestimmend sind, nicht umgekehrt (S. 123). Die
Thatsache der generellen Entwicklung, dass der Tastsinn der
früher ausgebildete Sinn ist, lässt sich also hier nicht auf die
individuelle Entwicklung übertragen. Für die nativistische Theorie
hat man als hauptsächlichste Belege erstens die Metamorphopsien
nach Dislocationen der Netzhautelemente (S. 140) und zweitens

§ 10. Die räumlichen Vorstellungen.
nimmt. Aber bei geringeren Tiefenverschiebungen sind diese
Empfindungen sehr unsicher. Wenn man daher monocular
einen Punct fixirt, so wird eine Bewegung desselben in der
Richtung der Blicklinie meistens erst dann deutlich wahr-
genommen, wenn auch eine Veränderung in der Größe des
Netzhautbildes eingetreten ist.

35. Von überwiegender Bedeutung sind deshalb bei der
Ausbildung monocularer Körpervorstellungen die Einflüsse,
welche die Bestandtheile der sogenannten Perspective
ausüben, wie relative Größe des Gesichtswinkels, Verlauf
der Begrenzungslinien, Richtung der Schatten, Aenderung der
Farben durch atmosphärische Absorption u. s. w. Da alle
diese Einflüsse, die sich in ganz übereinstimmender Weise bei
monocularem wie bei binocularem Sehen geltend machen,
auf Vorstellungsassociationen beruhen, so wird aber
erst im folgenden Capitel (§ 16) auf sie einzugehen sein.

35a. In der Erklärung der Gesichtsvorstellungen stehen sich
im allgemeinen die nämlichen theoretischen Anschauungen gegen-
über, die uns bei der Theorie der Tastvorstellungen begegnet sind
(S. 134). Die empiristische Theorie hat hier in ihrer Beschränkung
auf das optische Gebiet zuweilen die Inconsequenz begangen, dass
sie das eigentliche Problem der Raumwahrnehmung dem Tastsinn
zuschob und sich demnach darauf beschränkte zu erörtern, wie
auf Grund bereits vorhandener räumlicher Tastvorstellungen eine
Localisation der Gesichtseindrücke mit Hülfe der Erfahrung zu
Stande komme. Eine solche Interpretation steht aber nicht nur
in einem innern Widerspruch mit sich selber, sondern sie wider-
spricht auch der Erfahrung, welche zeigt, dass beim sehenden
Menschen die räumlichen Wahrnehmungen des Gesichtssinns für
die des Tastsinns bestimmend sind, nicht umgekehrt (S. 123). Die
Thatsache der generellen Entwicklung, dass der Tastsinn der
früher ausgebildete Sinn ist, lässt sich also hier nicht auf die
individuelle Entwicklung übertragen. Für die nativistische Theorie
hat man als hauptsächlichste Belege erstens die Metamorphopsien
nach Dislocationen der Netzhautelemente (S. 140) und zweitens

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[165/0181] § 10. Die räumlichen Vorstellungen. nimmt. Aber bei geringeren Tiefenverschiebungen sind diese Empfindungen sehr unsicher. Wenn man daher monocular einen Punct fixirt, so wird eine Bewegung desselben in der Richtung der Blicklinie meistens erst dann deutlich wahr- genommen, wenn auch eine Veränderung in der Größe des Netzhautbildes eingetreten ist. 35. Von überwiegender Bedeutung sind deshalb bei der Ausbildung monocularer Körpervorstellungen die Einflüsse, welche die Bestandtheile der sogenannten Perspective ausüben, wie relative Größe des Gesichtswinkels, Verlauf der Begrenzungslinien, Richtung der Schatten, Aenderung der Farben durch atmosphärische Absorption u. s. w. Da alle diese Einflüsse, die sich in ganz übereinstimmender Weise bei monocularem wie bei binocularem Sehen geltend machen, auf Vorstellungsassociationen beruhen, so wird aber erst im folgenden Capitel (§ 16) auf sie einzugehen sein. 35a. In der Erklärung der Gesichtsvorstellungen stehen sich im allgemeinen die nämlichen theoretischen Anschauungen gegen- über, die uns bei der Theorie der Tastvorstellungen begegnet sind (S. 134). Die empiristische Theorie hat hier in ihrer Beschränkung auf das optische Gebiet zuweilen die Inconsequenz begangen, dass sie das eigentliche Problem der Raumwahrnehmung dem Tastsinn zuschob und sich demnach darauf beschränkte zu erörtern, wie auf Grund bereits vorhandener räumlicher Tastvorstellungen eine Localisation der Gesichtseindrücke mit Hülfe der Erfahrung zu Stande komme. Eine solche Interpretation steht aber nicht nur in einem innern Widerspruch mit sich selber, sondern sie wider- spricht auch der Erfahrung, welche zeigt, dass beim sehenden Menschen die räumlichen Wahrnehmungen des Gesichtssinns für die des Tastsinns bestimmend sind, nicht umgekehrt (S. 123). Die Thatsache der generellen Entwicklung, dass der Tastsinn der früher ausgebildete Sinn ist, lässt sich also hier nicht auf die individuelle Entwicklung übertragen. Für die nativistische Theorie hat man als hauptsächlichste Belege erstens die Metamorphopsien nach Dislocationen der Netzhautelemente (S. 140) und zweitens

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Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/181>, abgerufen am 24.11.2024.