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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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mythische Erzählung von Siegfried und den Nibelungen wies eine pwo_069.002
Gestalt mit dem Namen Gunther und eine Hilde auf; die Namensgleichheit pwo_069.003
veranlaßte eine Jdentifizierung dieser Personen und dadurch pwo_069.004
eine Verschmelzung der Burgunden- und der Nibelungensage. So pwo_069.005
geschieht die Rache Kriemhilds an ihren Brüdern zur Sühne von pwo_069.006
Siegfrieds Tod.

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Schon für die indische Poesie war ähnlich eine große Völkerwanderung pwo_069.008
fruchtbar geworden: die Verschiebung der Wohnsitze aus pwo_069.009
dem Pendschab nach Osten mit den diesen geschichtlichen Akt begleitenden pwo_069.010
Kämpfen bildet die Keime für Ausbildung jener nationaler pwo_069.011
Sagen, die dem Mahabharata zugrunde liegen.

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Die griechische Sagenbildung setzt ebenfalls an solche geschichtliche pwo_069.013
Ereignisse an, die dem Volke einen weiteren Horizont, im eigentlichen pwo_069.014
geographischen Sinne des Wortes, eröffneten. Der Trojanische pwo_069.015
Krieg ist längst vor Homer in Einzelliedern besungen worden, gehört pwo_069.016
indes den jüngsten Teilen der griechischen Sage an. Jm äolischen pwo_069.017
Stamm ist dieser Sagenkreis ausgebildet, nur daß auch hier durch pwo_069.018
unorganische Kombination ionische Sagenelemente eindringen. Sonst pwo_069.019
ward die Kunde von der Argonautenfahrt anscheinend mit besondrer pwo_069.020
Vorliebe durch die Sage fortgesponnen. Doch hatte wie in Deutschland pwo_069.021
ursprünglich jeder Stamm seine eigenen Sagen aus seinen politischen pwo_069.022
Verschiebungen herausgebildet. Wie die geschichtlichen Erinnerungen pwo_069.023
von mythischen Ueberlieferungen durchflochten werden, tritt pwo_069.024
gerade auf griechischem Boden in der so weit gehenden, bei Homer pwo_069.025
unauflöslich erscheinenden Verbindung der Götter- und Heldendichtung pwo_069.026
hervor. Noch Xenophanes erzählt, daß man zu seiner Zeit die Kämpfe pwo_069.027
der Titanen und Giganten sowie die Schlachten der Kentauren bei pwo_069.028
festlichen Gelagen gerade so als wirkliche Geschichte vorgetragen habe, pwo_069.029
wie unmittelbare Ereignisse der Wirklichkeit.

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§. 44. pwo_069.031
Fortsetzung.
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Nicht allein die geschichtlichen Ereignisse erfahren in der Sage pwo_069.033
dauernd Wandlungen: selbst die Charaktere unterliegen entscheidenden pwo_069.034
Modelungen, zum guten Teil völliger Umbiegung.

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Siegfrieds Tod.

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  Schon für die indische Poesie war ähnlich eine große Völkerwanderung pwo_069.008
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dem Pendschab nach Osten mit den diesen geschichtlichen Akt begleitenden pwo_069.010
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  Die griechische Sagenbildung setzt ebenfalls an solche geschichtliche pwo_069.013
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der Titanen und Giganten sowie die Schlachten der Kentauren bei pwo_069.028
festlichen Gelagen gerade so als wirkliche Geschichte vorgetragen habe, pwo_069.029
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  Nicht allein die geschichtlichen Ereignisse erfahren in der Sage pwo_069.033
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[69/0083] pwo_069.001 mythische Erzählung von Siegfried und den Nibelungen wies eine pwo_069.002 Gestalt mit dem Namen Gunther und eine Hilde auf; die Namensgleichheit pwo_069.003 veranlaßte eine Jdentifizierung dieser Personen und dadurch pwo_069.004 eine Verschmelzung der Burgunden- und der Nibelungensage. So pwo_069.005 geschieht die Rache Kriemhilds an ihren Brüdern zur Sühne von pwo_069.006 Siegfrieds Tod. pwo_069.007   Schon für die indische Poesie war ähnlich eine große Völkerwanderung pwo_069.008 fruchtbar geworden: die Verschiebung der Wohnsitze aus pwo_069.009 dem Pendschab nach Osten mit den diesen geschichtlichen Akt begleitenden pwo_069.010 Kämpfen bildet die Keime für Ausbildung jener nationaler pwo_069.011 Sagen, die dem Mahabharata zugrunde liegen. pwo_069.012   Die griechische Sagenbildung setzt ebenfalls an solche geschichtliche pwo_069.013 Ereignisse an, die dem Volke einen weiteren Horizont, im eigentlichen pwo_069.014 geographischen Sinne des Wortes, eröffneten. Der Trojanische pwo_069.015 Krieg ist längst vor Homer in Einzelliedern besungen worden, gehört pwo_069.016 indes den jüngsten Teilen der griechischen Sage an. Jm äolischen pwo_069.017 Stamm ist dieser Sagenkreis ausgebildet, nur daß auch hier durch pwo_069.018 unorganische Kombination ionische Sagenelemente eindringen. Sonst pwo_069.019 ward die Kunde von der Argonautenfahrt anscheinend mit besondrer pwo_069.020 Vorliebe durch die Sage fortgesponnen. Doch hatte wie in Deutschland pwo_069.021 ursprünglich jeder Stamm seine eigenen Sagen aus seinen politischen pwo_069.022 Verschiebungen herausgebildet. Wie die geschichtlichen Erinnerungen pwo_069.023 von mythischen Ueberlieferungen durchflochten werden, tritt pwo_069.024 gerade auf griechischem Boden in der so weit gehenden, bei Homer pwo_069.025 unauflöslich erscheinenden Verbindung der Götter- und Heldendichtung pwo_069.026 hervor. Noch Xenophanes erzählt, daß man zu seiner Zeit die Kämpfe pwo_069.027 der Titanen und Giganten sowie die Schlachten der Kentauren bei pwo_069.028 festlichen Gelagen gerade so als wirkliche Geschichte vorgetragen habe, pwo_069.029 wie unmittelbare Ereignisse der Wirklichkeit. pwo_069.030 §. 44. pwo_069.031 Fortsetzung. pwo_069.032   Nicht allein die geschichtlichen Ereignisse erfahren in der Sage pwo_069.033 dauernd Wandlungen: selbst die Charaktere unterliegen entscheidenden pwo_069.034 Modelungen, zum guten Teil völliger Umbiegung.

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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/83>, abgerufen am 03.05.2024.