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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899.

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gänzlich überwältigen und seine Mitwirkung aufheben, kann ihm Anschauungen pwo_033.002
entgegenhalten, welche er nicht zu fassen vermag, für welche pwo_033.003
die ganze Summe seiner Erfahrungen und Urteile unzureichend ist. pwo_033.004
Alsdann steigert sich das Schöne zum Erhabenen."

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Historisch dürfte das Verhältnis gerade umgekehrt liegen wie in pwo_033.006
diesen deduktiven Spekulationen: Das schöne Ebenmaß der griechischen pwo_033.007
Litteratur fällt später als die erhabene Gigantik der ältesten religiösen pwo_033.008
Poesie. Erst Jahrhunderte nach dem Hildebrandslied und der Edda pwo_033.009
weiß die germanische Poesie Formen zu finden, die anstelle der alten pwo_033.010
Felsschlucht-Zerrissenheit schöne Lieblichkeit setzen, - Klänge wie im pwo_033.011
Nibelungenlied von Volkers Fiedel:

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"Als der Saiten Tönen ihm so süß erklang, pwo_033.013
Die stolzen Heimatlosen sagten ihm großen Dank";
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wie in der Gudrun "die süße Weise Horunds"; und einen Sänger, pwo_033.015
"der uns Freude brächte", wie Walther von der Vogelweide ersehnt.

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So scheint es, daß nicht nur die Erzeugnisse des menschlichen pwo_033.017
Geistes, wie Epos, Lyrik, Drama, sondern auch die Eigenschaften pwo_033.018
desselben in jahrtausendelangem Werdeprozeß sich nach und aus pwo_033.019
einander herausgebildet haben. Keineswegs hat diejenige Fülle und pwo_033.020
Feinheit, über welche der heutige Geist verfügt, von vorn herein pwo_033.021
neben einander im Bewußtsein des Menschen gelegen. Erwacht doch pwo_033.022
auch im Geiste des Einzelmenschen zuerst das Gefühl für Erhabenheit: pwo_033.023
Religion, Furcht u. dergl., viel später erst das für Schönheit: pwo_033.024
Kunst, Liebe u. dergl.

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§ 27. pwo_033.026
Vergöttlichung als poetisches Stilmittel.
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Wie tief die Poesie in der Religion wurzelt, wie durchaus die pwo_033.028
Erhebung über das Jrdische auch weiterhin eine Tendenz der Dichtung pwo_033.029
bleibt, das offenbart sich im ganzen Verlauf der Weltpoesie. pwo_033.030
Weit entfernt, daß sich deren einzelne Perioden in buntem Wechsel pwo_033.031
ablösen, sehen wir vielmehr die einmal errungene Geisteskraft neben pwo_033.032
den neu herausgebildeten fortbestehen. Nicht schlechtweg anders, sondern pwo_033.033
reicher wird der Menschengeist.

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Schreiten wir nämlich von den ältesten Dokumenten der Poesie

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gänzlich überwältigen und seine Mitwirkung aufheben, kann ihm Anschauungen pwo_033.002
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„Als der Saiten Tönen ihm so süß erklang, pwo_033.013
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  So scheint es, daß nicht nur die Erzeugnisse des menschlichen pwo_033.017
Geistes, wie Epos, Lyrik, Drama, sondern auch die Eigenschaften pwo_033.018
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Zitationshilfe: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/47>, abgerufen am 29.03.2024.