pwo_033.001 gänzlich überwältigen und seine Mitwirkung aufheben, kann ihm Anschauungen pwo_033.002 entgegenhalten, welche er nicht zu fassen vermag, für welche pwo_033.003 die ganze Summe seiner Erfahrungen und Urteile unzureichend ist. pwo_033.004 Alsdann steigert sich das Schöne zum Erhabenen."
pwo_033.005
Historisch dürfte das Verhältnis gerade umgekehrt liegen wie in pwo_033.006 diesen deduktiven Spekulationen: Das schöne Ebenmaß der griechischen pwo_033.007 Litteratur fällt später als die erhabene Gigantik der ältesten religiösen pwo_033.008 Poesie. Erst Jahrhunderte nach dem Hildebrandslied und der Edda pwo_033.009 weiß die germanische Poesie Formen zu finden, die anstelle der alten pwo_033.010 Felsschlucht-Zerrissenheit schöne Lieblichkeit setzen, - Klänge wie im pwo_033.011 Nibelungenlied von Volkers Fiedel:
pwo_033.012
"Als der Saiten Tönen ihm so süß erklang,pwo_033.013 Die stolzen Heimatlosen sagten ihm großen Dank";
pwo_033.014
wie in der Gudrun "die süße Weise Horunds"; und einen Sänger, pwo_033.015 "der uns Freude brächte", wie Walther von der Vogelweide ersehnt.
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So scheint es, daß nicht nur die Erzeugnisse des menschlichen pwo_033.017 Geistes, wie Epos, Lyrik, Drama, sondern auch die Eigenschaftenpwo_033.018 desselben in jahrtausendelangem Werdeprozeß sich nach und aus pwo_033.019 einander herausgebildet haben. Keineswegs hat diejenige Fülle und pwo_033.020 Feinheit, über welche der heutige Geist verfügt, von vorn herein pwo_033.021 neben einander im Bewußtsein des Menschen gelegen. Erwacht doch pwo_033.022 auch im Geiste des Einzelmenschen zuerst das Gefühl für Erhabenheit: pwo_033.023 Religion, Furcht u. dergl., viel später erst das für Schönheit: pwo_033.024 Kunst, Liebe u. dergl.
pwo_033.025
§ 27. pwo_033.026 Vergöttlichung als poetisches Stilmittel.
pwo_033.027
Wie tief die Poesie in der Religion wurzelt, wie durchaus die pwo_033.028 Erhebung über das Jrdische auch weiterhin eine Tendenz der Dichtung pwo_033.029 bleibt, das offenbart sich im ganzen Verlauf der Weltpoesie. pwo_033.030 Weit entfernt, daß sich deren einzelne Perioden in buntem Wechsel pwo_033.031 ablösen, sehen wir vielmehr die einmal errungene Geisteskraft neben pwo_033.032 den neu herausgebildeten fortbestehen. Nicht schlechtweg anders, sondern pwo_033.033 reicher wird der Menschengeist.
pwo_033.034
Schreiten wir nämlich von den ältesten Dokumenten der Poesie
pwo_033.001 gänzlich überwältigen und seine Mitwirkung aufheben, kann ihm Anschauungen pwo_033.002 entgegenhalten, welche er nicht zu fassen vermag, für welche pwo_033.003 die ganze Summe seiner Erfahrungen und Urteile unzureichend ist. pwo_033.004 Alsdann steigert sich das Schöne zum Erhabenen.“
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Historisch dürfte das Verhältnis gerade umgekehrt liegen wie in pwo_033.006 diesen deduktiven Spekulationen: Das schöne Ebenmaß der griechischen pwo_033.007 Litteratur fällt später als die erhabene Gigantik der ältesten religiösen pwo_033.008 Poesie. Erst Jahrhunderte nach dem Hildebrandslied und der Edda pwo_033.009 weiß die germanische Poesie Formen zu finden, die anstelle der alten pwo_033.010 Felsschlucht-Zerrissenheit schöne Lieblichkeit setzen, – Klänge wie im pwo_033.011 Nibelungenlied von Volkers Fiedel:
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„Als der Saiten Tönen ihm so süß erklang,pwo_033.013 Die stolzen Heimatlosen sagten ihm großen Dank“;
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wie in der Gudrun „die süße Weise Horunds“; und einen Sänger, pwo_033.015 „der uns Freude brächte“, wie Walther von der Vogelweide ersehnt.
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So scheint es, daß nicht nur die Erzeugnisse des menschlichen pwo_033.017 Geistes, wie Epos, Lyrik, Drama, sondern auch die Eigenschaftenpwo_033.018 desselben in jahrtausendelangem Werdeprozeß sich nach und aus pwo_033.019 einander herausgebildet haben. Keineswegs hat diejenige Fülle und pwo_033.020 Feinheit, über welche der heutige Geist verfügt, von vorn herein pwo_033.021 neben einander im Bewußtsein des Menschen gelegen. Erwacht doch pwo_033.022 auch im Geiste des Einzelmenschen zuerst das Gefühl für Erhabenheit: pwo_033.023 Religion, Furcht u. dergl., viel später erst das für Schönheit: pwo_033.024 Kunst, Liebe u. dergl.
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§ 27. pwo_033.026 Vergöttlichung als poetisches Stilmittel.
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Wie tief die Poesie in der Religion wurzelt, wie durchaus die pwo_033.028 Erhebung über das Jrdische auch weiterhin eine Tendenz der Dichtung pwo_033.029 bleibt, das offenbart sich im ganzen Verlauf der Weltpoesie. pwo_033.030 Weit entfernt, daß sich deren einzelne Perioden in buntem Wechsel pwo_033.031 ablösen, sehen wir vielmehr die einmal errungene Geisteskraft neben pwo_033.032 den neu herausgebildeten fortbestehen. Nicht schlechtweg anders, sondern pwo_033.033 reicher wird der Menschengeist.
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Historisch dürfte das Verhältnis gerade umgekehrt liegen wie in pwo_033.006
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Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg u. a., 1899, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_poetik_1899/47>, abgerufen am 16.02.2025.
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